Perdido Street Station 01 - Die Falter
erreichte, den östlichen Kontinent, Heimat der Khepri. Einige wenige Kaufleute und Entdecker hatten, von Unternehmungsgeist getrieben, mit den Menschen die Rückfahrt angetreten. Über Jahrhunderte hinweg erhielten sich die Nachkommen dieser kleinen Gruppe in der Stadt, wurden zu Einheimischen. Es gab keine speziellen Bezirke, keine Mörtelkäfer, keine Ghettos. Es gab nicht genug Khepri. Das änderte sich erst nach der tragischen Überfahrt.
Hundert Jahre war es her, dass die ersten Flüchtlingsschiffe mit Schlagseite in die Iron Bay trieben. Ihre riesigen Zahnradmotoren waren rostig und schadhaft, die Segel hingen in Fetzen. Es waren schwimmende Hospitäler, voll gepackt mit Khepri von Bered Kai Nev, mehr tot als lebendig. Seuchen wüteten mit solcher Heftigkeit, dass das uralte Tabu gegen Wasserbestattungen nicht hatte aufrechterhalten werden können. Daher befanden sich nur wenige Leichen an Bord, aber viele tausend Sterbende. Die Schiffe ähnelten überfüllten Vorzimmern zu Leichenhäusern.
Die Natur der Tragödie war und blieb ein Rätsel für die Behörden von New Crobuzon, die keine diplomatischen Beziehungen und nur sporadische Kontakte zu den Ländern von Bered Kai Nev unterhielten. Die Flüchtlinge wollten nicht darüber sprechen. Taten sie es doch, dann nur in kryptischen Andeutungen oder, falls sich welche zu ausführlicheren Erklärungen bereitfanden, verhinderte die Sprachbarriere eine Verständigung. Die Menschen wussten nur, dass die Khepri des Ostkontinents von etwas Furchtbarem heimgesucht worden waren, einem entsetzlichen Vortex, der Millionen verschlang und nur eine winzige Hand voll entkommen ließ. Die Khepri nannten diese mysteriöse Apokalypse den Heißhunger.
Fünfundzwanzig Jahre lagen zwischen der Ankunft der ersten Schiffe und der letzten Nachzügler. Die Besatzung mancher langsamen, nur von Segeln angetriebenen Schiffe bestand, so hieß es, ausschließlich aus auf See geborenen Khepri, nachdem alle ursprünglichen Flüchtlinge während der nicht enden wollenden Irrfahrt gestorben waren. Ihre Töchter wussten nicht, vor was sie flohen, nur, dass ihre sterbenden Brutmütter ihnen befohlen hatten, nach Westen zu segeln und nicht umzukehren, komme, was da wolle. Kunde von den Gnadenschiffen der Khepri – danach benannt, worum sie baten – erreichte New Crobuzon aus anderen Regionen an der Ostküste des Kontinents Rohagi, aus Gnurr Kett und von den Jheshull Islands, und sogar aus dem weit südlich gelegenen Sherds. Der panische Exodus hatte das Volk über die halbe Welt verstreut.
In manchen Ländern wurden die Flüchtlinge in blutigen Pogromen niedergemetzelt, andernorts, wie in New Crobuzon, mit Skepsis empfangen, jedoch nicht unverhohlen feindselig. Sie ließen sich nieder, wurden Arbeiter, Steuerzahler, Kriminelle und fanden sich, durch einen subtilen und deshalb kaum spürbaren einheitlichen Druck, in Ghettos wieder, Zielscheibe der Anfeindungen von Bigotten und Schlägerbanden.
Lin war nicht in Kinken aufgewachsen. Sie hatte in dem jüngeren, ärmeren Kheprighetto Creekside das Licht der Welt erblickt, einem Schmutzfleck im Nordwesten der Stadt. Auf Grund der selektiven Ausmerzung von Erinnerungen, die in den Köpfen der Flüchtlinge stattgefunden hatte und der infolgedessen lückenhaften Überlieferung, war es nahezu unmöglich, die wahre Geschichte Kinkens und Creeksides zu verstehen. Das Trauma, welches der Heißhunger bewirkte, führte dazu, dass die erste Generation einen radikalen Strich unter zehntausend Jahre Kheprigeschichte zog und ihre Ankunft in New Crobuzon als den Beginn eines neuen Zyklus, des Stadtzyklus, proklamierte. Als die nächste Generation von den Brutmüttern Auskunft über Vergangenheit und Traditionen verlangte, hatten viele sich geweigert, und viele konnten sich nicht erinnern. Die Geschichte der Khepri versank hinter dem dunklen Schatten des Genozids.
Für Lin war es deshalb schwierig, die Geheimnisse dieser ersten zwanzig Jahre des Stadtzyklus zu ergründen. Kinken und Creekside präsentierten sich ihr als vollendete Tatsachen, wie schon ihrer Brutmutter und der Generation davor und der Generation davor.
Creekside besaß keinen Platz mit Denkmälern. Vor hundert Jahren war es heruntergekommener Menschenslum gewesen, und die Mörtelkäfer hatten wenig mehr getan, als die vorgefundenen, baufälligen Gebäude mit Muzin zu überziehen und sie auf ewig im Zustand des Verfalls zu konservieren. Die Einwohner von Creekside waren keine Künstler oder
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