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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Obstimporteure oder Clanchefs oder Sippenälteste oder Ladenbesitzer. Sie waren unterprivilegiert und hungrig. Sie malochten in den Fabriken und der Kanalisation, verkauften sich an jeden, der zahlte. Ihre Schwestern in Kinken verachteten sie.
    In Creeksides schäbigen Gassen wucherten fantastische und gefährliche Ideen. Kleine Gruppen von Radikalen trafen sich in geheimen Versammlungsräumen. Messianische Kulte versprachen die Erlösung der Auserwählten.
    Viele der ursprünglichen Flüchtlinge hatten sich von den Göttern von Bered Kai Nev abgewandt, im Zorn, weil diese ihre Anhänger nicht vor dem Heißhunger bewahrt hatten. Doch nachfolgende Generationen, in Unkenntnis der wahren Natur der Tragödie, begannen die Götter wieder anzubeten. Im Lauf von hundert Jahren wurden alte Werkstätten und aufgegebene Tanzhallen zu Pantheontempeln geweiht. Doch viele Creeksider erwählten sich in ihrer Verwirrung und ihrer Sehnsucht neue Götter.
    Sämtliche traditionellen Kulte waren in Creekside zu finden. Die Erhabene Brutmutter wurde verehrt und die Bildnerin. Die Gütige Heilerin wachte über das ärmliche Hospital und die Starken Schwestern beschützten die Gläubigen. Doch in primitiven Baracken am Rand der Industriekanäle und in Vorderzimmern hinter verdunkelten Fenstern erhoben sich Gebete zu befremdlicheren Göttern. Priesterinnen weihten sich dem Dienst am Elyktrischen Teufel oder des Luftfischers. Geheimgesellschaften stiegen auf Dächer und sangen Hymnen an die Schwingenschwester und baten um Flügel. Und einige einsame, verzweifelte Seelen – wie Lins Brutmutter – wurden zu ergebenen Anhängern von Insekt-Aspekt.
     
    Präzise aus dem Khepri in die Schriftsprache New Crobuzons transkribiert, hieß das chymio-audio-visuelle Kompositum aus Beschreibung, Hingabe und Ehrfurcht, welches den Namen des Gottes ergab, Insekt/Aspekt (männlich) / (einfältig). Doch die wenigen Menschen, die von ihm wussten, nannten ihn Insekt-Aspekt, und diesen Namen hatte Lin Isaac gezeigt, als sie ihm die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend erzählte.
    Seit sie im Alter von sechs Jahren den Kokon von ihrer Kopflarve zog, die nun ein Kopfkäfer war, und in ein bewusstes Dasein eintrat, befähigt zu Sprache und Gedanken, hatte ihre Mutter sie gelehrt, dass sie von Gott nicht geliebt war. Die düstere Doktrin von Insekt-Aspekt lautete: Kheprifrauen sind verflucht! Irgendeine sündhafte Tat von Seiten des ersten Weibes hatte ihre Töchter zu einem Leben mit der Last eines lächerlichen, unbeholfenen zweibeinigen Körpers verurteilt, und dem Fluch eines von den unnützen Umwegen und Ambivalenzen der Intelligenz verwirrten Hirns. Frau hatte die insektile Reinheit von Gott und Mann verloren.
    Lins Brutmutter (die einen Namen als dekadente Anmaßung verschmähte) lehrte sie und ihre Brutschwester, Insekt-Aspekt wäre der Herr der gesamten Schöpfung, die allmächtige Kraft, die nur Hunger und Durst kannte, und Paarung und Befriedigung. Er hatte nach dem Verzehr des leeren Raums das Universum ausgeschissen, in einem geistlosen Akt kosmischer Schöpfung, umso reiner und großartiger, weil ohne Absicht oder Bewusstsein vollbracht. Lin und ihre Brutschwester lernten, Insekt-Aspekt mit demütigem Eifer anzubeten und ihre Selbsterkenntnis und ihre weichen, chitinlosen Körper zu verabscheuen.
    Man lehrte sie auch, ihre stupiden Brüder zu verehren.
    Es hatte lange gedauert, bis Lin an jene Zeit zurückdenken konnte, ohne sich vor Ekel zu schütteln. Auf ihrer Bank in den lauschigen Parks von Kinken, ließ sie die Vergangenheit sich vor ihrem inneren Auge entfalten, Stück für Stück, ein allmählicher Akt der Erinnerung, der großen Mut erforderte.
    Sie erinnerte sich, wie ihr damals aufging, dass ihr Leben nicht war wie das der anderen. Bei ihren seltenen Einkaufswegen bemerkte sie entsetzt die beiläufige Verachtung, mit der ihre Schwestern männliche Khepri behandelten, die stumpfsinnigen, halbmeterlangen Insekten mit einem Fußtritt aus dem Weg beförderten oder zertraten. Sie erinnerte sich an ihre schüchternen Gespräche mit den anderen Kindern, die ihr erzählten, wie die Nachbarn lebten; ihre Angst, sich in der Sprache zu äußern, die sie instinktiv beherrschte, mit der sie geboren war, die sie aber hassen sollte, wie ihre Brutmutter predigte.
    Lin erinnerte sich, wie sie zu einem Haus gekommen war, in dem es von männlichen Khepri wimmelte und nach faulem Obst und Gemüse stank, das Hautgout der organischen Abfälle, die dort als

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