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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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was er gesagt und getan hatte, und nicht an die Münzen und Scheine denken, die man ihm schicken würde, sich einreden, dass er es nur gut meinte und es überhaupt es am Besten wäre so.
    Der zweite Mann hielt ihm die Tür auf und entließ ihn in die Freiheit. David stolperte hindurch und lief fast den Flur hinunter. Es war eine Flucht.
    Doch er konnte seinen Schritt durch die Straßen von Spit Hearth beschleunigen, wie er wollte. Den Qualen seines schlechten Gewissens entkam er damit nicht, sie hielten ihn umklammert, so unerbittlich wie Treibsand.

 
KAPITEL 30
     
     
    In der einen Nacht noch schlief die Stadt ihren verhältnismäßig friedlichen Schlaf.
    Natürlich gab es die üblichen Störungen. Männer und Frauen trugen ihre Zwistigkeiten aus und starben. Blut und Erbrochenes besudelten die alten Straßen. Glas splitterte. Milizgondeln schnitten durch den Himmel. Luftschiffe schnaubten wie monströse Wale. Die verstümmelte, augenlose Leiche eines Mannes wurde in Badside ans Ufer geschwemmt und später als Benjamin Flex identifiziert.
    Die Stadt wälzte sich ruhelos durch ihr Nachtland, wie schon seit Jahrhunderten. Es war ein oft unterbrochener Schlummer, aber sie kannte es nicht anders.
    Doch in der folgenden Nacht, als David sein geheimes Treffen im Rotlichtbezirk durchlitt, hatte sich etwas verändert. Nacht in New Crobuzon war immer ein Chaos verstörender Rhythmen und plötzlicher heftiger Akkorde gewesen. Doch jetzt spielte ein neuer Ton hinein. Ein latent bedrohliches Wispern, Raunen, das die Atmosphäre vergiftete.
    Für eine Nacht war die Spannung in der Luft diffus und tastend, eine Ahnung, die in das Bewusstsein der Einwohner tröpfelte und Schatten über ihre schlafenden Gesichter sandte. Dann Tag, und nichts blieb als die vage Erinnerung an ein flüchtiges, bedrückendes Traumbild.
    Dann aber, mit den länger werdenden Schatten, der Abendkühle und der von der Unterseite der Welt zurückkehrenden Nacht, senkte sich etwas Neues und Schreckliches auf die Stadt hinab.
    In allen Vierteln, von Flag Hill im Norden bis Barrackham jenseits des Flusses, von der Tristesse Badsides im Osten zu den rohen Industrieslums von Chimer, wälzten die Leute sich in ihren Betten und stöhnten.
    Die Kinder spürten es als Erste. Sie weinten und gruben die Nägel in die Handflächen, ihre kleinen Gesichter verzerrten sich zu harten Grimassen; sie schwitzten stark und übel riechend und warfen heftig die Köpfe hin und her, alles ohne aufzuwachen.
    Als die Nacht voranschritt, traf es auch die Erwachsenen. In den Tiefen eines beliebigen anderen, harmlosen Traums brachen alte Schrecken und Fantasien plötzlich durch mentale Schutzwälle wie Invasionsarmeen.
    Prozessionen schauriger Gestalten bedrängten den Gequälten, belebte Visionen tiefer Ängste und absurd banale Gräuel – Buhmänner und Kobolde, über die man im Wachen gelacht haben würde.
    Jene, die zufällig verschont blieben, erwachten mitten in der Nacht von dem Stöhnen und Wimmern ihrer schlafenden Liebsten, oder ihrem dumpfen, trostlosen Schluchzen. Manchmal handelten die Träume von Lust oder Glück, doch übersteigert und fiebrig und erschreckend in ihrer Intensität. In diesem dunklen Zerrspiegel war schlecht schlecht und gut ebenfalls schlecht.
    Die Stadt wankte und erbebte. Träume wurden eine Pestilenz, ein Bazillus, der von einem Schläfer auf den anderen übersprang. Sie nisteten sich sogar in den Hirnen der Wachenden ein. Streifegänger und Agenten der Miliz, Nachtschwärmer, Studenten über ihren Büchern, Schlaflose: Ihre Gedanken schweiften ab, verloren sich in Fantasien und Bildern von unwiderstehlicher, halluzinatorischer Eindringlichkeit.
    Überall, in der ganzen Stadt, spalteten Schreie traumbefangenen Grauens die Nacht.
    New Crobuzon fand sich in den Klauen einer Epidemie, einer Seuche nächtlicher Heimsuchung. Pavor nocturnus.
     
    Der Sommer brütete über New Crobuzon. Erstickend. Die Nachtluft war heiß und satt wie gebrauchter Atem. Hoch über der Stadt, gefangen vom Sog der Megalopolis, gaukelten die riesigen Falter.
    Sie schwärmten aus, bewegten die riesigen geflammten Schwingen, wühlten mit jedem Heben und Senken ölige Luftwellen auf. Ihre vielfältigen Appendizes – tentakulär, insektil, anthropoid, chitinös, zahlreich – bebten in fiebriger Erregung.
    Sie öffneten ihre monströsen Mäuler und entrollten lange, fransige Zungen. Die Luft war schwer von Träumen, und die Falter schleckten gierig die aromatischen Säfte.

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