Perdido Street Station 01 - Die Falter
Wenn die Fransen am vorderen Ende der Zunge sich mit dem immateriellen Nektar voll gesogen hatten, rollten die Falter sie genießerisch schmatzend ein. Sie knirschten mit den gewaltigen Zähnen.
Sie schwangen sich höher hinauf, dabei entleerten sie ihre Därme, befreiten sich von der Jauche ihrer vorherigen Mahlzeiten. Die unsichtbare Spur verteilte sich über den Himmel, psychische Gülle, die klumpig und klebrig durch die Fugen der mundanen Ebene glitt. Sie sickerte aus dem Æther und füllte die Stadt, rieselte in die Imaginationen der Einwohner, störte ihre Ruhe, lockte Ungeheuer auf den Plan. Die Schlafenden und die Wachenden fühlten, wie ihre Gedanken gärten.
Die fünf rüsteten sich zur Jagd.
In dem ungeheuerlichen, quirlenden Gebräu aus den Albträumen der Stadt schmeckte jeder Falter individuelle Aromaschwaden.
Gewöhnlich waren sie opportunistische Jäger. Sie warteten, bis sie einen starken mentalen Aufruhr witterten, irgendeinen Geist mit besonders köstlichen Ausdünstungen. Dann orteten die unheimlichen dunklen Falter die Quelle und stießen auf die Beute hinab. Sie gebrauchten ihre schmalen Hände, um Dachfenster zu öffnen, und schritten durch mondhelle Mansarden, um sich satt zu trinken. Sie umschlangen mit einer Vielzahl von Gliedmaßen einsame Wanderer am Flussufer, deren Schreie in einer bereits von flehenden Rufen erfüllten Nacht ungehört verhallten.
Doch wenn die leer gesogenen Hüllen ihrer Mahlzeiten zuckend und schlaff auf Dielen oder Straßenpflaster sanken, wenn der erste Hunger gestillt war und die nächsten Mahlzeiten mit Muße eingenommen werden konnten, zum Genuss, dann wurden die Falter neugierig. Sie schmeckten das schwache Aroma von Quellen, die sie schon einmal gekostet hatten, und als Jäger mit einer wachen, kalten Intelligenz folgten sie ihnen.
Einmal war es das vage Denkmuster eines der Wächter, der vor ihrem Gefängnis in Bonetown gestanden und sich lüsternen Tagträumen über die Ehefrau seines Freundes hingegeben hatte. Seine appetitlichen Fantasieschwaden stiegen auf und wanden sich um eine forschende Zunge. Der betreffende Falter schwenkte darauf zu, in der charakteristischen schlingernden Flugweise eines Schmetterlings oder einer Motte, und folgte der Witterung seiner Beute hinunter nach Echomire.
Eine andere der gigantischen Kreaturen beschrieb unversehens eine weit geschwungene Acht, kreuzte ihre eigene Bahn, forschte nach dem vertrauten Aroma, das flüchtig ihre Geschmacksknospen gestreift hatte. Es war eine Ausdünstung von Nervosität gewesen, die in die Kokons der verpuppten Ungeheuer drang. Der riesige Falter stand wie eine dunkle Wolke über der Stadt, aus seinem Maul troff Speichel, verteilte sich durch verschiedene Dimensionen. Die Ausdünstungen waren diffus, vielfach überlagert, aber die Kreatur hatte einen ausgeprägten Geschmackssinn und wendete sich nach Mafaton, leckte sich an der betörenden Spur der Wissenschaftlerin entlang, welche die monströsen Insekten in den Phasen ihrer Entwicklung betreut hatte, Magesta Barbile.
Der Verwachsene, der unterernährte Kümmerling, der seine Geschwister befreit hatte, fand gleichfalls eine Geschmacksfährte, die Erinnerungen weckte. Sein Gehirn war weniger gut entwickelt, seine Zunge weniger empfindlich: Er konnte der immer wieder verschwimmenden Spur nicht durch den Himmel folgen. Doch er gab nicht auf. Die Würze dieses Geistes war so vertraut, sie hatte die Kreatur durch die Phase der Bewusstwerdung begleitet, während der Verpuppung und Selbstschaffung in der seidenen Hülle. Er verlor die Witterung, fand sie wieder, verlor sie erneut, witterte.
Der kleinste und schwächste der Nachtjäger, um vieles stärker als jeder Mensch, hungrig und Raubtier, schleckte sich seinen Weg durch den Himmel, suchte in immer weiteren Kreisen nach der Fährte von Isaac Dan dar Grimnebulin.
Isaac, Derkhan und Lemuel Girrvogel standen an der Straßenecke und traten nervös von einem Fuß auf den anderen. Über ihnen blakte eine Gaslaterne.
»Wo verdammich bleibt dein Kollege?«, brummte Isaac.
»Er kommt zu spät. Wahrscheinlich findet er den Weg nicht. Ich habe dir gesagt, er ist nicht besonders helle«, antwortete Lemuel gelassen. Er zog ein Schnappmesser hervor und säuberte sich damit die Fingernägel.
»Wozu brauchen wir ihn überhaupt?«
»Spiel nicht den Ahnungslosen, Freund. Du hast so fein den Bogen raus, mir verlockend mit Scheinen vor der Nase herumzuwedeln, dass ich mich wider besseres Wissen
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