Perdido Street Station 01 - Die Falter
der Messinghand ragte eine hässlich gezackte Harpune.
Lin prallte verdutzt und entsetzt zurück.
Hinter der Frau mit dem traurigen Gesicht ertönte eine sonore Stimme.
»Miss Lin? Die Künstlerin? Sie kommen spät. Mr. Vielgestalt erwartet Sie. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Die Remade vollführte auf dem mittleren Bein eine halbe Pirouette zur Seite, so dass Lin an ihr vorbeigehen konnte, dabei wich die Harpune nicht einen Millimeter von ihrem Ziel ab.
Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht, dachte Lin bei sich und tat den entscheidenden Schritt über die Schwelle.
Am anderen Ende eines ganz und gar schwarzen Korridors stand ein Kaktusmann. Lin konnte seinen Saft in der Luft schmecken, aber nur sehr schwach. Er war zwei Meter groß, schwergliedrig, plump. Sein Schädel wuchs aus dem Bogen der Schultern wie die Kuppe eines Berges mit vereinzelten Klumpen borstiger Vegetation. Die grüne Haut war übersät mit Narben, sechs Zentimeter langen Stacheln und winzigen roten Frühlingsblüten.
Er winkte ihr mit warzigen Fingerspitzen.
»Mr. Vielgestalt kann es sich leisten, geduldig zu sein«, bemerkte er, während er sich umdrehte und die Treppe hinaufstieg, »doch ich kann Ihnen versichern, dass Warten ihm kein Vergnügen bereitet.« Der Kaktusmann wandte schwerfällig den Kopf und hob vielsagend eine Augenbraue.
Blablabla, dachte Lin ungeduldig. Du sollst keine Vorträge halten, sondern mich zu deinem Herrn und Meister führen.
Er stapfte voran mit seinen formlosen Füßen, die an Baumstümpfe gemahnten.
Hinter sich hörte Lin das pneumatische Fauchen und dumpfe Poltern, mit dem die Remade die Stufen erklomm. Lin folgte dem Kaktus durch einen vielfach gewundenen, fensterlosen Gang.
Ein riesiger Komplex, dachte sie, als der Gang kein Ende nahm. Vielgestalt hatte die gesamte Häuserzeile in Besitz genommen, Wände eingerissen, neue errichtet, das Ganze umgebaut zu einer Residenz nach Maß. Sie kamen an Türen vorbei, aus denen plötzlich ein verstörender Laut erscholl, bei dem Lin an die erstickten Schmerzensschreie von Maschinen denken musste. Als sie weitergingen, ertönte eine rasche Folge dumpf pochender Geräusche wie von einer Salve in weiches Holz einschlagender Armbrustbolzen.
O Brutmutter, dachte Lin gereizt. Gazid, wozu, verdammt noch mal, habe ich mich von dir überreden lassen?
Gazid. Lucky Gazid, der gescheiterte Impressario, hatte den Prozess in Gang gesetzt, in Folge dessen sie sich an diesem unheimlichen Ort befand.
Er hatte einen Satz Heliotypen von ihren neuesten Arbeiten angefertigt, um in der Stadt damit hausieren zu gehen, eine regelmäßige Aktion, da er bemüht war, sich bei den Künstlern und Mäzenen von New Crobuzon einen Namen zu machen. Gazid war eine traurige Gestalt. Jedem, der bereit war zuzuhören, erzählte er von seiner bis dato einzigen erfolgreichen Ausstellung – vor nunmehr dreizehn Jahren für eine inzwischen verstorbene Ætherbildnerin arrangiert. Lin und die meisten ihrer Freunde empfanden Mitleid für ihn und Verachtung. Jeder in ihrem Bekanntenkreis ließ ihn seine Heliotypen machen und steckte ihm ein paar Schekel oder einen Nobel zu, als »Vorschuss auf sein Agentenhonorar«. Daraufhin pflegte er für ein paar Wochen zu verschwinden und tauchte irgendwann wieder auf, Erbrochenes an der Hose und Blut an den Schuhen, zugedröhnt mit irgendeiner neuen Droge, und das Ganze ging von vorne los.
Aber diesmal nicht.
Gazid hatte für Lin einen Käufer gefunden.
Als er im Glock’ und Gockel an ihren Tisch gewieselt kam, hatte sie protestiert. Jemand anders wäre an der Reihe, hatte sie auf ihren Block geschrieben, sie hätte ihm erst vor einer Woche oder so eine ganze Guinee Vorschuss gegeben, aber Gazid hatte sie unterbrochen und darauf bestanden, unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Und während ihre Freunde, die künstlerische Elite von Salacus Fields, lachten und witzelten, hatte Gazid ihr eine steife weiße Visitenkarte gereicht, die auf der Vorderseite eingeprägt ein schmuckloses Schachbrettmuster mit drei mal drei Feldern trug. Auf der Rückseite stand eine kurze maschinengeschriebene Notiz:
Miss Lin, mein Arbeitgeber war überaus beeindruckt von den Beispielen Ihrer Arbeit, die Ihr Agent ihm gezeigt hat. Er lässt anfragen, ob Sie unter Umständen an einem Treffen interessiert wären, um über einen möglichen Auftrag zu sprechen. Ihrer Antwort sehen wir gern entgegen. Die Unterschrift war unleserlich.
Gazid war ein Wrack, süchtig nach so ziemlich
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