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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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geistesabwesend und als es anfing, seine Finger abzulecken, rief er zu David hinunter, es sei höchste Zeit, seinem dienstbaren Geist etwas zu fressen zu geben. Zu seiner Überraschung antwortete ihm Schweigen. David und Lublamai waren fortgegangen, ohne dass er es gemerkt hatte, wahrscheinlich zu einem späten Mittagessen, immerhin werkelte er seit etlichen Stunden hier vor sich hin.
    Er reckte sich, schlurfte hinüber zu seiner Kochecke und reichte Guteseele ein Stück Dörrfleisch, über das die Dächsin sich dankbar hermachte. Langsam wurde Isaac sich wieder seiner Umgebung bewusst, er hörte durch die Mauer hinter sich die Geräusche des Schiffsverkehrs draußen auf dem Fluss.
    Unten öffnete und schloss sich die Tür.
    Er ging zur Treppe und schaute hinunter, in der Annahme, seine Mitbewohner seien zurückgekehrt.
    Jedoch ein Fremder stand in der Mitte der großen, leeren Fläche. Die aufgestörte Luft ordnete sich um den Eindringling, betastete ihn wie mit Tentakeln, hüllte ihn in einen Kreisel aus tanzendem Staub. Umgeben von Lichtbahnen aus offenen Fenstern oder Löchern im Mauerwerk, stand er im Schatten. Der Holzboden der Galerie knarrte, als Isaac sich behutsam vorbeugte. Der Fremde unten hob ruckartig den Kopf, eine Kapuze glitt nach hinten und er schaute, die Hände an die Brust gedrückt, reglos zu Isaac empor.
    Der riss die Augen auf.
    Es war ein Garuda.
    Auf dem Weg die Treppe hinunter stolperte Isaac und musste sich am Geländer festhalten, weil er den Blick nicht von diesem außergewöhnlichen Besucher abwenden konnte. Dann stand er ihm gegenüber.
    Die imposante Gestalt war in einen schmutzigen Umhang gehüllt, unter dessen Saum furchteinflößende Greifvogelkrallen hervorlugten. Der zerschlissene Stoff verbarg jeden Zentimeter seines Körpers, bis auf den Kopf des Garuda. Und dieses große Vogelgesicht mit einer Miene, die man fast als hochmütig bezeichnen konnte, sah Isaac über sich gebeugt. Der scharfe, gebogene Schnabel war ein Mittelding zwischen dem eines Falken und dem einer Eule. Seidige Federn verdunkelten sich harmonisch von Ocker über Falb zu scheckigem Braun. Tiefe schwarze Augen schauten in die seinen, die Iris als vage Schattierung nur zu ahnen. Der schroffe Brauenwulst verlieh dem Garudagesicht einen Ausdruck unwandelbarer Strenge, stolzer Unnahbakeit.
    Hinter dem Kopf des Garuda, bedeckt von dem rauen Sackleinen, in das er sich kleidete, ragten die unverkennbaren Umrisse der zusammengefalteten Schwingen auf, Klippen aus Federn, Haut und Knochen, die einen halben Meter oder mehr über seine Schultern hinauswuchsen und in elegantem Bogen aufeinander zu. Isaac hatte niemals persönlich einen Garuda seine Schwingen ausbreiten sehen, aber er hatte von dem Sturm gelesen, den sie entfachten, und dem Schatten des Todes, den sie über die Jagdbeute unten auf der Erde breiteten.
    Was tust du hier, so weit weg von zu Hause?, dachte Isaac staunend. Man sehe sich deine Farben an: Du stammst aus der Wüste! Du musst den weiten, weiten Weg aus dem Cymek gekommen sein. Was bei Jabber hat dich hergeführt, du Riesensperling?
    Fast schüttelte er den Kopf aus Ehrfurcht vor dem mächtigen Räuber, bevor er sich räusperte und das Wort ergriff.
    »Kann ich helfen?«

 
KAPITEL 4
     
     
    Lin, zu ihrem größten Schrecken, drohte sich zu verspäten.
    Zu allem Übel war Bonetown ohnehin nicht ihr bevorzugter Aufenthaltsort; die Kunterbunt-Architektur dieses exotischen Stadtteils verwirrte sie: Eine Synkrise aus Industrialismus und baulicher Prostitution der halbwegs Betuchten, dem bröckelnden Beton verödeter Hafenkais und den ausgespannten Zelthäuten des Elendsviertels. Scheinbar beliebig ineinander übergehend, breiteten sich die unterschiedlichen Formen in dieser Flussebene aus, umschlossen Flecken urbaner Steppe und Trümmerfelder, wo wilde Blumen und Unkraut mit dicken Stängeln sich durch rissige Ebenen aus Beton und Teer bohrten.
    Man hatte Lin einen Straßennamen genannt, aber die Schilder hier hingen verrottet an den Pfosten und wiesen mehr oder minder schiefwinkelig in unmögliche Richtungen, waren durch Rost unleserlich oder widersprachen sich in ihren Angaben. Lin gab es auf, sie entziffern zu wollen, und zog stattdessen ihren skizzierten Plan zu Rate.
    Warum nicht an den Rippen orientieren? Sie brauchte nur den Blick zu heben und sah sie über sich gewaltig in den Himmel ragen. Nur eine Hälfte des Brustkorbs war sichtbar, die ausgebleichten, verwitterten Bögen wölbten sich wie

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