Perdido Street Station 01 - Die Falter
eine turmhohe Flutwelle über den Häuserzeilen im Osten, zu Bein erstarrt, bevor sie niederbrechen und alles zerschmettern konnte. Lin machte sich auf den Weg.
Die Straßen öffneten sich und vor ihr lag wieder ein quadratisches Stück katastermäßig erfasster Grünfläche, aber um ein Vielfaches größer als die vorherigen. Weniger ein Platz als ein riesiges, unfertiges Loch in der Stadt. Die Häuser, die es einfassten, zeigten ihm nicht das Gesicht, sondern die kalte Schulter, als hätte man ihnen Nachbarn mit eleganten Fassaden versprochen, die ausgeblieben waren. Dazwischen tasteten die Straßen von Bonetown sich zaghaft ins Brachland vor, begleitet von einem schütteren Fransensaum menschlicher Ansiedlung, der bald im Nichts zerfaserte.
Auf dem von Unrat übersäten Gras standen vereinzelt provisorische Verkaufsstände und Klapptische, bestückt mit billigen Kuchen, alten Drucken oder dem Gerümpel aus irgendjemandes Bodenkammer. Straßenkünstler praktizierten lustlos ihr Gewerbe. Ein paar halbherzige Käufer wanderten herum, und Angehörige sämtlicher Spezies saßen auf verstreuten Steinblöcken, lasen, aßen, kratzten Muster in den Staub oder meditierten im Schatten der Riesenknochen über Natur und Bedeutung derselben.
Kolossale Spanten aus gelblichem Elfenbein, dicker als die Stämme der ältesten Bäume, barsten aus der Erde, strebten auseinander und in weiter Krümmung himmelwärts, bis sie sich, mehr als dreißig Meter über den Dächern der umliegenden Häuser, wieder zueinander neigten. Noch einmal so hoch wuchsen sie empor, bis ihre Spitzen sich fast berührten, gigantische gekrümmte Finger, eine für einen Gott bemessene Fußangel.
Es hatte Pläne gegeben, den Platz als Baugrund zu nutzen, Geschäfts- und Wohngebäude sollten in dem vorzeitlichen Brustkorb entstehen, doch es war nichts daraus geworden.
Werkzeug, Baumaschinen versagten den Dienst oder verschwanden. Zement wollte nicht binden. Etwas Feindseliges in dem halb exhumierten Gerippe bewahrte die letzte Ruhestätte vor dauerhafter Entweihung.
Zwanzig Meter unter Lins Füßen hatten Archäologen Wirbelknochen von Hausgröße ausgegraben, ein ganzes Rückgrat, stillschweigend der Erde wiedergegeben, nachdem es erneut auf der Baustelle zu einem Unfall gekommen war. Keine Gliedmaßen, kein Becken, kein passender Schädel fand sich, niemand vermochte zu sagen, was für eine Kreatur hier vor Millionen von Jahren den Tod gefunden hatte. Die Händler von Billigdrucken, die sich des Themas angenommen hatten, wetteiferten in der abwechslungsreichen, farbenfrohen Darstellung von Gigantus Crobuzon, vier- oder zweibeinig, humanoid, mit Reiß- oder Stoßzähnen, geflügelt, aggressiv oder pornografisch.
Lins Karte führte sie zu einer namenlosen Gasse an der Südseite der Rippen. Schließlich gelangte sie in eine ruhige Straße, wo sie die schwarz gestrichenen Gebäude fand, die man ihr beschrieben hatte; eine Reihe düsterer, verlassener Häuser, alle, bis auf eins, mit zugemauerten Türöffnungen und geschwärzten Fenstern.
Keine Passanten in dieser Straße, keine Droschken, kein Fahrzeugverkehr. Lin war mutterseelenallein.
Über der einen noch vorhandenen Tür war ein Symbol angebracht, das aussah wie ein Spielbrett, ein Quadrat unterteilt in neun kleinere Quadrate. Es waren aber keine Kreise oder Kreuze eingezeichnet, überhaupt keine weiteren Markierungen.
Lin zögerte. Sie zupfte an ihrem Rock und ihrer Bluse, bis sie endlich, über sich selbst verärgert, zu dieser Tür ging und entschlossen anklopfte.
Schlimm genug, dass ich unpünktlich bin, dachte sie, ich muss ihn nicht noch weiter gegen mich aufbringen.
Irgendwo über ihrem Kopf hörte sie das Gleiten von Riegeln und Scharnieren und bemerkte ein kurzes Aufblitzen von reflektiertem Licht hoch oben: Ein System aus Linsen und Spiegeln wurde in Gebrauch genommen, damit jene drinnen urteilen konnten, ob jene draußen der Beachtung würdig waren.
Die Tür ging auf.
Vor Lin stand eine riesenhafte Remade. Ihr Gesicht war unverändert das einer traurigen, schönen Menschenfrau mit dunkler Haut und langem, geflochtenem Haar, doch es krönte ein zwei Meter hohes Skelett aus schwarzem Stahl und Zinn. Sie stand auf einem Dreibein aus steifen, ausfahrbaren Metallstreben. Ihr Körper war für schwere Arbeit eingerichtet worden, mit Kolben und Flaschenzügen versehen. Er vermittelte den Eindruck unüberwindlicher Kraft. Ihr rechter Arm wies ausgestreckt auf Lins Kopf und aus dem Teller
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