Perdido Street Station 01 - Die Falter
Zusammenhang verrate, Miss Lin, dass mir einige außerordentlich wertvolle Besitztümer entwendet worden sind. Eine Reihe kleiner Fabriken, wenn Sie so wollen. Daher die Verknappung von Dreamshit. Und wissen Sie was? Ich muss zugeben, ich stand vor einem Rätsel, was den oder die Täter anging. Wahrhaftig. Es gab keinerlei Anhaltspunkte.« Ein Schwall eisiger Lächeln flog über seine Vielzahl von Gesichtern. »Bis ich das Glück hatte, Gazids Selbstgespräch zu belauschen. Dann war plötzlich alles – klar.« Er spie ihr jedes einzelne Wort des letzten Satzes entgegen.
Auf ein unmerkliches Zeichen trat sein Adlatus auf Lin zu, die sich duckte und auszuweichen versuchte, aber zu spät. Der Kaktusmann hatte bereits mit seinen enormen fleischigen Pranken ihre Arme umfasst und hielt sie fest.
Lins Kopfbeine zuckten, und sie stieß einen durchdringenden chymischen Schmerzensschrei aus. Die Kaktusleute pflegten normalerweise die Dornen in ihren Handflächen abzurasieren, um besser greifen und hantieren zu können, dieser aber hatte sie wachsen lassen. Dutzende Büschel kurzer, faseriger Stacheln bohrten sich in ihr Fleisch.
Die Arme an den Leib gepresst, wehrlos, wurde sie vor Vielgestalt hingeschoben. Er beäugte sie hämisch. Als er weitersprach, war seine Stimme dick belegt mit tückischer Brutalität.
»Ihr Kakerlaken Eckender Liebhaber hat versucht, mich aufs Kreuz zu legen, stimmt’s, Miss Lin? Kauft pfundweise mein Dreamshit, hält eigene Falter, wie Gazid mir erzählt, und besitzt die Unverfrorenheit, dann auch noch meine zu stehlen.« Die letzten Worte brüllte er wutschäumend hinaus.
Lin konnte wegen der Schmerzen in ihren Armen kaum einen klaren Gedanken fassen, aber sie bemühte sich verzweifelt, von der Hüfte aus zu zeigen: Nein nein nein das stimmt nicht das stimmt nicht …
Vielgestalt schlug ihre Hände nach unten.
»Hüte dich, mich verarschen zu wollen, du kerfenköpfige Hure. Bastardschlampe. Dreckstück. Dein Mist fressender Kerl hat versucht, mich aus meinem eigenen verdammten Markt zu drängen. Nun, das ist ein sehr, sehr gefährliches Spiel.« Er bewegte sich vielfüßig ein Stück zurück und weidete sich an ihrer Angst und ihren Schmerzen. »Wir werden Mr. dar Grimnebulin zu uns bitten, um für seinen Diebstahl Rechenschaft abzulegen. Denken Sie, dass die Sorge um Ihr Wohlergehen ihn bewegen wird, unserer Einladung Folge zu leisten?«
Blut tränkte die Ärmel von Lins Bluse. Wieder wollte sie mit den Fingern beteuern, so sei es nicht gewesen.
»Sie werden Gelegenheit bekommen, sich zu äußern, Miss Lin«, sagte Vielgestalt, wieder Herr seiner selbst. »Vielleicht sind Sie Mitwisserin, vielleicht haben Sie keine Ahnung, wovon ich spreche. Pech für Sie, gebe ich zu, aber ich bin nicht gesonnen, diese Sache auf sich beruhen zu lassen.« Er schaute zu, wie sie verzweifelt versuchte, sich zu artikulieren, zu erklären, sich loszureißen.
Ihre Arme wurden taub. Im Fesselgriff des Kaktus’ war sie zur Sprachlosigkeit verurteilt. Während ihr vor Schmerz allmählich die Sinne schwanden, hörte sie Vielgestalt flüstern:
»Ich bin kein barmherziger Mann.«
Der Platz vor der naturwissenschaftlichen Fakultät wimmelte von Studenten. Die meisten trugen den vorgeschriebenen schwarzen Talar, nur einige wenige aufmüpfige Geister warfen ihn beim Verlassen des Gebäudes über den Arm.
Inmitten des Getriebes fielen zwei bewegungslose Gestalten auf, zwei Männer. Sie lehnten am Stamm des Baumes, ohne sich an den Harzflecken auf ihrer Kleidung zu stören. Es war schwülwarm, trotzdem trug der eine von ihnen einen langen Mantel und einen schwarzen Hut.
Geraume Zeit standen sie da und rührten sich kaum. Eine Vorlesung entließ ihre Hörer, dann die nächste. Die Männer sahen zwei Zyklen von Studenten kommen und gehen. Ab und zu rieb der eine oder der andere sich die Augen, oder bewegte das Gesicht, um die Müdigkeit zu vertreiben. Doch sogleich richtete er seine scheinbar müßige Aufmerksamkeit wieder auf das Hauptportal.
Endlich, die Nachmittagsschatten wurden länger, bewegten sich die Männer. Das Objekt ihrer Observation erschien. Montague Vermishank trat aus dem Gebäude und sog zaghaft die Luft ein, als wäre es seine Pflicht, sie zu genießen. Er machte Anstalten, sein Jackett auszuziehen, dann besann er sich anders und kroch wieder hinein. Schließlich lenkte er den Schritt ortseinwärts.
Die beiden Männer stießen sich von dem Baum ab und schlenderten hinterher.
Es herrschte
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