Perdido Street Station 01 - Die Falter
konzentrierte sie sich auf den Teil des Beins, an dem sie arbeitete, registrierte visuell, was in ihrem Blickfeld lag und ergänzte aus dem Gedächtnis die Elemente, die unsichtbar waren: die Höcker des Exoskeletts, die Kanneluren der Muskulatur. Vorsichtig presste sie die dicke Paste aus der Drüse. Die Sphinkterlabien dehnten und verengten und spitzten sich, rollten und kneteten das Spei in Form.
Mit dem opalisierenden Schimmer des Khepri-Speis ließen sich großartige Effekte erzielen, doch an manchen Stellen waren die Farbschattierungen von Vielgestalts bizarrer Physis zu spektakulär, zu faszinierend, als dass man sie hätte übergehen dürfen. Lin senkte den Blick und nahm eine Hand voll der Färberbeeren, die vor ihr auf der Palette lagen. Sie stellte eine ausgewogene Kombination zusammen und verzehrte sie rasch, ein kalkulierter Cocktail aus Rotbeeren und Cyanbeeren, dazu vielleicht Purpur- und Gelb- und Schwarzbeeren.
Der farbige Saft lief durch die Kopfgeweide und durch spezielle Verdauungskanäle in einen Anhang der Glandula. Nach vier bis fünf Minuten konnte Lin die Farbmixtur in das Khepri-Spei drücken. Sie platzierte den flüssigen Schaum sehr überlegt in kühn nuancierten Schuppen und Riefen, wo er schnell zu der gewünschten Form erstarrte.
Erst nach langen Stunden, aufgebläht und ausgelaugt, im Mund ein pelziges Gefühl von den sauren Beeren und den kalkigen Nachgeschmack der Paste, konnte Lin sich umdrehen und das Geschaffene begutachten. Das war das besondere Talent der Ekkrinisten, die gezwungen waren, blind zu arbeiten.
Das erste von Vielgestalts Beinen entwickelte sich sehr gut, befand sie nicht ohne Stolz.
In dem Stück Himmel, das man durch das Fenster sehen konnte, brodelten die Wolken, wurden von unsichtbaren Kräften auseinander gerissen und anderswo aus Fetzen und Klumpen neu zusammengeballt. Auf dem Dachboden hingegen regte sich kein Hauch, Staub hing in der unbewegten Luft, und auch Vielgestalt stand bewegungslos unter dem Fenster im wechselhaften Licht.
Er war ein sehr geduldiges Modell, solange nichts ihn daran hinderte, mit dem einen oder anderen seiner Münder einen endlos plätschernden Monolog aufrechtzuerhalten. Heute waren Drogen sein Thema.
»Welches ist Ihr Gift, Lin? Shazbah? Tusk hat meines Wissens keine Wirkung auf Khepri, das kann es also nicht sein …« Er überlegte. »Ich finde, Künstler haben ein ambivalentes Verhältnis zu Drogen. Geht es in der Kunst nicht darum, die Bestie im Innern zu erlösen? Oder den Engel, je nachdem. Türen zu öffnen, die man fest verschlossen glaubte. These: Wenn man dazu Drogen nimmt, wird das eigentliche künstlerische Schaffen nicht zu einer Enttäuschung? Kunst ist eine Form der Kommunikation, nicht wahr? Konsumiert man also Drogen, die – ganz egal, was irgend so eine proselytierende kleine Schwuchtel, die sich in der Bar im Kreise von ihresgleichen eine Wunderkerze einwirft, mir erzählen will –, die also eine essenziell individuelle Erfahrung sind, dann gelingt es einem, die Türen zu öffnen, aber kann man mitteilen, was man auf der anderen Seite gefunden hat?
Verzichtet man andererseits auf diese Krücken zur Bewusstseinserweiterung und bleibt strikt auf dem graden Weg der so genannten Normalität, dann ist es zwar möglich, mit anderen zu kommunizieren, weil alle dieselbe Sprache sprechen, aber – hat man die Tür geöffnet? Vielleicht besteht die Lösung darin, sich auf einen Blick durchs Schlüsselloch zu beschränken. Vielleicht genügt das …«
Lin hob den Blick, um zu sehen, mit weichem Mund er sprach. Es war ein großer, weiblicher, dicht unterhalb seiner Schulter. Seltsam, dass seine Stimme immer gleich blieb. Sie wünschte sich, sie könnte antworten oder dass er aufhörte zu reden. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Aber einen besseren Kompromiss als den, zu dem er sich bereits bequemt hatte, würde sie ihm kaum abringen können.
»Mit Drogen lässt sich Geld machen, unglaublich viel Geld – natürlich wissen Sie das. Haben Sie eine Ahnung, was Ihr Freund und Agent Lucky Gazid für seinen neusten illegitimen Trip zu zahlen bereit ist? Sie wären überrascht. Machen Sie sich den Spaß und fragen Sie ihn. Der Markt für diese Substanzen ist immens. Groß genug für friedliche Koexistenz.«
Lin konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Vielgestalt sich einen Spaß mit ihr machte. Indem er beiläufig brisante Details aus dem Treiben von New Crobuzons Unterwelt in sein Geplauder einstreute,
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