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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Atzung.
    Das Wesen im Käfig antwortete ihnen.
    Diese Rufe waren nicht mit den Ohren wahrnehmbar, sie sprachen andere Sinne an als das Gehör. Die Wissenschaftlerin spürte einen kalten Schauer über ihren Körper laufen, als die Schemen weltenferner Emotionen gleich halb erlauschten Gerüchten durch ihren Kopf huschten. Wellen fremdartigen Entzückens und nicht menschlichen Grauens überfluteten ihre Nase, Ohren und Augen.
    Mit zitternden Fingern schob sie das Tablett zurück in den Käfig. Als sie den ersten Schritt zur Tür tun wollte, strich etwas lasziv züngelnd an ihrem Bein entlang. Mit einem angstvollen Ächzen riss sie sich los und musste alle Willenskraft aufwenden, um nicht in Panik zu geraten, sich nicht umzuschauen.
    In den beiden Spiegeln erhaschte sie einen Blick auf schwarzbraune Gliedmaßen, die sich aus dem verdorrten Gestrüpp schlängelten, das gelbliche Elfenbein von Zähnen, schwarze Augengruben. Farne und Zweige raschelten, und das Wesen war verschwunden.
    Die Wissenschaftlerin klopfte heftig an die Tür, wartete mit angehaltenem Atem, dass geöffnet wurde, stolperte hindurch und fast in die Arme des Wächters. Sie zerrte am Kinnriemen, riss sich den Helm vom Kopf und hielt krampfhaft den Blick abgewandt, während sie darauf lauschte, wie der Wächter die Tür schloss und verriegelte.
    »Ist sie zu?«, fragte sie endlich mit fast tonloser Stimme.
    »Ja.«
    Sie drehte sich langsam wieder um, dabei hielt sie den Blick fest auf den Boden gerichtet und überzeugte sich von der Wahrheit seiner Worte, indem sie auf den unteren Rand der Tür schaute. Dann erst hob sie mit einem befreiten Aufatmen den Kopf.
    Sie gab den Helm zurück. »Danke.«
    »War’s okay?«
    »Es ist nie okay«, schnappte sie und wandte sich zum Gehen.
    Hinter sich glaubte sie ein machtvolles Flügelrauschen zu vernehmen.
    Sie durchquerte mit schnellen Schritten den Saal mit den geheimnisvollen Kreaturen. Auf halbem Weg fiel ihr auf, dass sie die Schachtel, in der die Raupen gewesen waren, noch in der Hand hielt. Sie faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche.
    Mit einem Gefühl der Erleichterung schloss sie die Teleskoptür zu der Menagerie schattenhafter, feindseliger Geschöpfe und kehrte durch den langen, weißen, keimfreien Korridor zurück in das Vorzimmer der Abteilung Forschung und Entwicklung.
    Sie zog die schwere Tür ins Schloss und schob den Riegel vor, dann gesellte sie sich fast heiter, wie von einer schweren Last befreit, wieder zu ihren weiß gekleideten Kollegen, die in Femtoskope spähten oder Abhandlungen studierten oder halblaut fachsimpelnd bei den Türen zu anderen Spezialabteilungen standen. Jede Tür trug eine Aufschrift in Rot und Schwarz.
    Als Dr. Magesta Barbile zu ihrem Arbeitstisch zurückging, um ihren Bericht abzufassen, warf sie über die Schulter einen Blick zu der Tür, durch die sie hereingekommen war, und auf die warnende Aufschrift:
     
    BIOHAZARD
    Lebensgefahr
    Vorsichtsmaßnahmen beachten

 
KAPITEL 10
     
     
    »Haben Sie Erfahrungen mit Drogen gemacht, Miss Lin?«
    Lin hatte Vielgestalt bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass es ihr Schwierigkeiten bereitete, sich während der Arbeit zu unterhalten. Er hatte liebenswürdig erwidert, dass es ihn langweilte, für sie Modell zu stehen, überhaupt jemandem Modell zu stehen. Sie brauche sich nicht verpflichtet fühlen zu antworten, hatte er gesagt. Falls das eine oder andere sie interessierte, könne sie es sich merken und später, am Ende der Sitzung, nochmals zur Sprache bringen. Sie solle sich keinesfalls von ihm stören lassen, meinte er. Unmöglich könne er zwei, drei, vier Stunden dastehen und kein Wort sprechen. Das würde ihn um den Verstand bringen. Also hörte sie ihm zu und versuchte, sich ein oder zwei Punkte einzuprägen, um sich nachher dazu zu äußern. Sie war immer noch sehr darauf bedacht, ihn nicht zu verärgern.
    »Sie sollten es einmal versuchen. Offen gesagt, ich bin überzeugt, das haben Sie bereits. Eine Künstlerin wie Sie. Die Abgründe der Psyche ausloten und so weiter.« Sie hörte ein Lächeln in seiner Stimme.
    Lin hatte Vielgestalt überreden können, die Sitzungen auf dem Dachboden seines Hauptquartiers in Bonetown abzuhalten. Wie sie herausgefunden hatte, war es der einzige Raum mit Tageslicht im ganzen Gebäude. Nicht nur Maler oder Heliotypisten waren auf gutes Licht angewiesen: Texturen und Tastbarkeit, die sie bei ihren Skulpturen so akribisch herausarbeitete, wurden von Kerzenschein geglättet

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