Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
und von Gaslampen zu stark hervorgehoben. Notgedrungen hatte sie, auch wenn ihr alles andere als wohl dabei war, mit ihm verhandelt, bis er sich ihrem Fachwissen beugte. Von da an wurde sie an der Eingangstür von dem Kaktus, seinem Leibwächter, empfangen und in den obersten Stock geleitet, wo eine Stufenleiter zu einer Falltür in der Decke hinaufführte.
    Dort blieb ihr Begleiter zurück und ließ sie allein nach oben steigen. Jedes Mal fand sie Vielgestalt bereits wartend vor. Er stand allein in der enormen, Zeitlosigkeit atmenden Leere unter dem Dach, wenige Meter entfernt von der Luke, aus der sie herausstieg. Der dreieckige Speicherraum erstreckte sich über etwa ein Drittel der gesamten Häuserzeile, eine perspektivische Studie, mit der anarchischen Agglomeration von lebender Materie in der Person von Vielgestalt als Mittelpunkt.
    Nichts sonst befand sich in dem Raum. Es gab eine Tür, die zu einem kleinen Gang führte, aber Lin hatte sie noch nie offen gesehen. Die Luft war trocken. Lin trat über lose Dielen hinweg, bei denen man Gefahr lief, sich Splitter einzureißen, aber zum Ausgleich für die kleinen Unbequemlichkeiten wirkte der Schmutzfilm auf den großen Mansardenfenstern wie ein Filter, der das einfallende Licht fein verteilte. Lin bedeutete ihrem Auftraggeber, sich in den Rhombus aus Sonnenschein oder, an anderen Tagen, der weicheren Helle eines bewölkten Himmels zu stellen. Dann wanderte sie um ihn herum, orientierte sich neu, bevor sie ihre Arbeit wieder aufnahm.
    Einmal hatte sie ihn gefragt, wo er ein lebensgroßes Abbild seiner selbst aufzustellen gedachte.
    »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, hatte er mit einem versonnenen Lächeln geantwortet.
     
    Sie stand vor ihm und beobachtete, wie die lauwarme, graue Helligkeit die Konturen seiner fantastischen Konfiguration nachzeichnete. Zu Beginn jeder Sitzung, bevor sie an die Arbeit ging, wendete sie einige Minuten daran, sich wieder mit ihrem Modell vertraut zu machen.
    Die ersten Male war sie überzeugt gewesen, dass er sich über Nacht veränderte, dass das Kaleidoskop seiner Gestalt sich neu ordnete, wenn niemand hinschaute. Sie begann, sich vor ihrem Auftrag zu fürchten. Verhielt es sich damit vielleicht wie mit den Aufgaben in einem der Märchen mit Moral? Musste sie zur Strafe für irgendeine nebulöse Sünde auf ewig danach streben, einen in stetigem Wandel befindlichen Körper in einem Stadium seiner Veränderung festzuhalten, aus Angst stumm, dazu verflucht, jeden Morgen das Werk aufs Neue zu beginnen?
    Doch recht bald lernte sie, Struktur in das Chaos zu bringen. Sie empfand es als unglaublich prosaisch, die rasiermesserscharfen Chitinzacken, die aus einem Flecken Elefantenhaut ragten, zu zählen, nur um sicher zu gehen, dass sie an der Skulptur nicht eine vergessen hatte. Es erschien ihr beinahe vulgär – als sollte der Anarchismus seiner Gestalt über schnöde Bestandsaufnahme erhaben sein. Und doch, als sie begann, ihn mit solchen Augen zu sehen, begann auch der methodische Schaffensprozess.
    Ein fester Ablauf spielte sich ein. Lin stellte sich vor ihn hin und fixierte ihn mit ihren Facettenaugen, erfasste ihn in einer raschen Folge von Momentaufnahmen der einzelnen Sehzellen, interpretierte das Aggregat Vielgestalt aus der Flut der minimal voneinander abweichenden Einzelbilder. Sie hatte sich mit Stäben der weißen, kreidigen Paste bewaffnet, die sie in ihrem Stoffwechsel verdaute und als Werkstoff ausschied. Schon vor ihrer Ankunft hatte sie einige zu sich genommen, und während sie sich ihr Modell einprägte, verzehrte sie einen weiteren, stoisch den flachen, kalkigen Geschmack ignorierend. Die Masse wanderte im Lauf der Stoffwechselprozesse durch ihren Kopfkörper zu dem Beutel im hinteren Teil des Kopfthorax. Ihr Kopfbauch schwoll sichtbar an.
    Endlich drehte sie sich um und nahm das erste Stück der im Werden begriffenen Skulptur, eine dreizehige Reptilklaue, die einer von Vielgestalts Füßen war. Sie fixierte es auf einem niedrigen Hocker, dann kniete sie sich mit dem Rücken dazu hin, öffnete die kleine schützende Chitinkapsel über ihrer Glandula und stülpte die Labien am hinteren Ende des Kopfkörpers mit einem schlürfenden Laut über den Rand des angefangenen Werkstücks.
    Erst träufelte sie behutsam ein wenig von dem Enzym, das die Kohäsion des bereits erstarrten Khepri-Speis auflöste, auf die Ansatzstelle und verwandelte das Material dort wieder in einen zähen, klebrigen Schleim. Dann

Weitere Kostenlose Bücher