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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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presste, drückte das noch übrige Spei aus der Glandula, dabei reduzierte sich der gerippte Käferbauch auf seinen gewohnten Umfang. Ein dicker weißer Klumpen Khepri-Spei quoll aus der Öffnung und bildete auf dem Boden einen Kringel. Sie streckte die Drüsenöffnung nach unten und säuberte sie mit den Hinterbeinen, dann schloss sie behutsam die kleine, schützende Kapsel unter ihren Flügelspitzen.
    Sie stand auf und reckte sich. Vielgestalts verbindliches, kaltes, gefährliches Geplauder brach ab. Er hatte nicht bemerkt, dass sie Anstalten traf, die Sitzung zu beenden.
    »So früh, Miss Lin?«, rief er in theatralischer Enttäuschung.
    Konzentration lässt nach, zeigte sie. Sehr anstrengend. Muss aufhören.
    »Selbstverständlich. Und wie weit ist das Meisterwerk gediehen?«
    Sie nahmen es gemeinsam in Augenschein.
    Lin sah erfreut, dass ihre Improvisation mit dem dünnflüssigen Färberbeerensaft einen lebendigen, aussagekräftigen Effekt geschaffen hatte, nicht unbedingt naturalistisch, aber das war keins ihrer Werke, vielmehr entstand der Eindruck, das Fleisch wäre mit furioser Willkür auf den Knochen verpflanzt worden. Eine Analogie, die der Wahrheit möglicherweise sehr nahe kam.
    Die transparenten Farben ergossen sich in unregelmäßigen Zungen über das perlmuttartig schillernde Weiß. Die Schichten von Muskeln und Gewebe krochen übereinander, die Komplexität der ornamentalen Anatomie trat deutlich hervor.
    Vielgestalt nickte beifällig. »Wissen Sie, meine Ehrfurcht vor dem großen Moment lässt mich wünschen, es gäbe eine Möglichkeit zu verhindern, dass ich diese Skulptur noch einmal sehe, bevor sie vollendet ist. Ich muss zugeben, der Anfang sieht sehr gut aus. Sehr gut. Doch zu frühes Lob birgt Gefahren. Es kann Selbstgefälligkeit zur Folge haben – oder das Gegenteil. Deshalb, Miss Lin, lassen Sie es sich nicht verdrießen, wenn diese Worte die letzten sind, die ich zu Ihrem Werk äußern werde, bis Sie mir sagen können, es ist vollbracht.«
    Lin nickte. Sie konnte den Blick nicht von ihrer Arbeit abwenden und strich mit der Hand liebevoll über die seidige Oberfläche des trocknenden Khepri-Speis. Ihre Finger erforschten den Übergang von Fell zu Schuppen, von Schuppen zu Haut unterhalb von Vielgestalts Knie. Sie schaute nach unten auf das Original. Sie schaute nach oben in sein Gesicht. Er erwiderte ihren Blick mit Tigeraugen.
    Was – was sind Sie gewesen?, fragte sie.
    Er seufzte.
    »Ich habe schon darauf gewartet, dass Sie mir diese Frage stellen, Lin. Ich hoffte, Sie würden es nicht tun, obgleich ich wusste, es war so gut wie unvermeidlich. Deshalb beginne ich zu zweifeln, ob wir einander wirklich verstehen«, stieß er plötzlich bösartig zischend hervor. Lin zuckte zurück.
    »Es ist so vorhersehbar. Sie haben nicht die richtige Perspektive. Ganz und gar nicht. Unbegreiflich, dass Sie imstande sind, Kunstwerke dieses Ranges zu schaffen. Immer noch sehen Sie dies …«, er deutete mit einer Affenpfote auf seinen Körper, »- als pathologisch. Sie möchten wissen, was vorher war und was passiert ist. Dies ist nicht Irrtum oder Mangel oder Mutation – dies ist Wesen und Essenz …« Seine eifernde Stimme hallte durch den Speicherraum.
    Er beruhigte sich ein wenig und senkte die vielen Arme. »Dies ist Ganzheit.«
    Sie nickte, um zu zeigen, dass sie verstand, zu müde, um sich zu fürchten.
    Vielgestalt seufzte nachsichtig. »Vielleicht bin ich zu hart zu Ihnen. Ich meine – dieses Fragment hier vor uns beweist, dass Sie ein Gespür für den Augenblick des Übergangs haben, mag auch Ihre Frage Anlass geben, das Gegenteil zu vermuten … Vielleicht«, fuhr er langsam fort, »tragen Sie selbst diesen Moment in sich. Ein Teil von Ihnen versteht, ohne auf Worte zurückgreifen zu müssen, selbst wenn Ihr logischer Verstand Fragen stellt, in einem Format, welches eine Antwort unmöglich macht.«
    Er schaute sie triumphierend an.
    »Auch Sie repräsentieren die hybride Zone, Miss Lin! Ihre Kunst entsteht, wo Ihr Begreifen und Ihre Unwissenheit verschmelzen.«
    Schön, gab sie durch Zeichen zu verstehen, während sie ihre Utensilien zusammenpackte. Ist nicht wichtig. Tut mir Leid, dass ich gefragt habe.
    »Mir hat es ebenfalls Leid getan, aber jetzt nicht mehr.«
    Lin klappte ihren hölzernen Kasten um die fleckige Palette, die restlichen Färberbeeren (sie musste ihren Vorrat ergänzen) und die Stangen aus weißer Paste zusammen. Vielgestalt fuhr fort mit seinen philosophischen Faseleien,

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