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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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seinen Thesen zur Bastardtheorie. Lin hörte nicht zu. Sie wandte ihre Fühler von ihm ab, registrierte die winzigen Verschiebungen und Erschütterungen des Gebäudes, den Druck des Windes auf die Fenster.
    Ich will einen Himmel über mir haben, dachte sie, nicht dieses alte, staubige Gebälk, dieses geteerte, morsche Dach. Ich gehe zu Fuß nach Hause. Ein Spaziergang. Durch Brock Marsh.
    Während sie den Gedanken ausspann, festigte sich ihr Entschluss.
    Ich werde beim Laboratorium vorbeigehen und Isaac einfach fragen, ob er mitkommt, und ihn dann für eine Nacht entführen.
    Vielgestalt dozierte immer noch.
    Sei still, sei still, du verwöhntes Blag, du verdammter Megalomane mit deinen blödsinnigen Theorien, dachte Lin.
    Als sie sich, bevor sie die Leiter hinunterstieg, noch einmal umdrehte, um Auf Wiedersehen zu zeigen, kostete es sie Überwindung, wenigstens ein Mindestmaß an Höflichkeit zu wahren.

 
KAPITEL 11
     
     
    Eine Taube hing gekreuzigt an einem X aus Teerholz auf Isaacs Arbeitstisch. Sie drehte angstvoll den Kopf von einer Seite zur anderen, doch konnte sie ihren bösen Ahnungen nur mit einem jämmerlichen Gurren Ausdruck verleihen.
    Ihre ausgebreiteten Flügel waren mit dünnen Metallstiften – in die engen Zwischenräume zwischen einzelnen Federn geschlagen und dann umgebogen – an das Holz geheftet, die Beine an den unteren Schenkeln des kleinen Kreuzes festgebunden. Der Tisch darunter war mit dem kalkigen Weiß und Grau von Vogelkot bekleckert. Die Taube zitterte und versuchte, die Flügel zu schütteln, aber die Nägel hielten sie fest.
    Isaac beugte sich über den Delinquenten, bewaffnet mit einem Vergrößerungsglas und einem langen Bleistift.
    »Hör auf mit dem Gezappel, du Milbenzirkus«, brummte er und tippte mit dem Stift gegen die Schulter des Vogels. Durch das Vergrößerungsglas studierte er die minimalen Zuckungen der zarten Muskeln und Knochen. Gleichzeitig kritzelte er blind Notizen auf ein Blatt Papier.
    »He, da oben!«
    Bei Lublamais scharfem Ruf wandte Isaac den Kopf über die Schulter. Er trat ans Geländer und schaute nach unten.
    »Was gibt’s?«
    Lublamai und David standen mit vor der Brust verschränkten Armen nebeneinander am Fuß der Treppe. Sie sahen aus wie zwei zum Geburtstagsständchen angetretene Sängerknaben, doch ihre Mienen waren bewölkt. Ein paar Sekunden lang schwieg man sich gegenseitig an.
    »Sieh mal«, begann Lublamai in plötzlich begütigendem Ton, »Isaac … Wir hatten uns darauf geeinigt, dass dies ein Ort sein sollte, an dem wir ungestört unsere Forschungen betreiben können, nach dem Motto: keine Fragen, gegenseitige Unterstützung und so weiter – richtig?«
    Isaac massierte sich seufzend die Augen mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand.
    »Um Jabbers willen, Freunde, erspart mir die Nummer mit den alten Kameraden, einer für alle und diese Sprüche. Ich weiß, ihr seid sauer und ich kann’s euch nicht übel nehmen …«
    »Es riecht«, fiel David ihm trocken ins Wort. »Und den lieben langen Tag genießen wir das Konzert für gemischten ornithologischen Chor in Dur und Moll.«
    Während er sprach, kam das alte Faktotum schlingernd herangerollt und machte hinter ihm Halt. Der Kopf rotierte, die Augenlinsen registrierten die beiden Männer und ihre Haltung. Es zögerte einen Moment, dann verschränkte es in unbeholfener Nachahmung ihrer Pose die kurzen, dicken Metallarme vor dem metallenen Leib.
    Isaac stieß den Finger nach unten. »Seht euch das an, euer Mädchen für alles ist übergeschnappt. Es hat einen Virus! Lasst es verschrotten, bevor es sich emanzipiert und ihr gezwungen seid, mit eurem mechanischen Putzteufel existenzielle Diskussionen zu führen.«
    »Lenk nicht vom Thema ab«, sagte David ärgerlich, drehte sich um und gab dem Konstrukt einen Stoß, dass es umfiel. »Wir gestehen einander einen gewissen Spielraum zu, was Belästigungen angeht, aber du treibst es zu weit.«
    »Schon gut!« Isaac warf die Hände in die Luft. Er ließ den Blick über seine Menagerie wandern. »Ich fürchte, irgendwie habe ich Lemuels Talent, Dinge in Gang zu bringen, unterschätzt.«
    Auf der ringsum laufenden Empore stapelten sich dicht an dicht Behältnisse mit flatterndem, zeterndem, krabbelndem Inhalt. Die Halle war erfüllt von den Geräuschen aufgestörter Luft, dem unvermittelt anschwellenden Crescendo schlagender Flügel, dem Pladdern von Exkrementen und – alles übertönend – dem unablässigen Krakeel der eingesperrten Vögel.

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