Perdido Street Station 01 - Die Falter
breitete sich Unruhe aus. Der ein oder andere wäre offenbar durchaus bereit gewesen, sich überreden zu lassen, doch keiner legte sich mit dem Sprecher an, einem hoch gewachsenen Garuda mit einer langen Narbe quer über der Brust.
Lin sah, wie Isaac langsam den Mund öffnete. Er wollte versuchen, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden. Sie beobachtete, wie seine Hand zur Tasche kroch und auf halbem Weg innehielt. Wenn er jetzt Geld zeigte, hielt man ihn womöglich für einen zwielichtigen Geschäftemacher oder Strolch.
»Hört mal«, sagte er zögernd, »ich habe wirklich nicht geahnt, dass es da ein Problem …«
»Mag ja stimmen, was du erzählst – aber vielleicht willst du uns auch verarschen. Vielleicht bist du ein Handlanger der Miliz.« Isaac schnaubte verächtlich, aber der hünenhafte Garuda fuhr in unverändert ironischem Tonfall fort: »Vielleicht haben die Mörderschwadronen einen Weg gefunden, uns zu rupfen, wie sie es gern nennen. ›Ich brauche eure Hilfe für meine Forschungen …‹ Nein, danke, kein Bedarf.«
»Klar, ich verstehe natürlich, dass ihr misstrauisch seid. Ich meine, ihr kennt mich nicht und …«
»Keiner von uns wird sich dir für deine Forschungen zur Verfügung stellen, Mann. So einfach ist das.«
»Aber versteht doch, ich bezahle gut. Einen Schekel pro Tag für jeden, der bereit ist, in mein Laboratorium zu kommen.«
Der Hüne trat vor und stieß Isaac mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Wir sollen in dein Laboratorium kommen, damit du uns aufschlitzen kannst, um nachzusehen, wie wir ticken, ist es nicht so?« Die anderen Garuda wichen zurück, als er in herausfordernder Haltung um Lin und Isaac herumstolzierte. »Du und deine Kakerlakenfreundin, ihr wollt mich in Stücke schneiden?«
Isaac war entschlossen, sich nicht kampflos geschlagen zu geben. Er wandte sich direkt an die abwartende Menge.
»Verstehe ich recht, dass der da für euch alle spricht? Oder gibt es nicht doch jemanden hier, der sich gern einen Schekel Tageslohn verdienen möchte?«
Hier und da wurde gemurmelt. Garuda warfen sich verstohlene, unschlüssige Blicke zu. Der Hüne vor Isaac warf die Fäuste in die Höhe und schüttelte sie in leidenschaftlicher Erregung.
»Ich spreche für alle.« Er drehte sich um und ließ den Blick langsam über die Versammlung wandern. »Irgendjemand anderer Meinung?«
Nach einem Moment des Schweigens trat ein junger Mann vor.
»Charlie …« Er wandte sich an den Wortführer von eigenen Gnaden. »Ein Schekel ist eine Menge Geld. Was meinst du, wenn ein paar von uns sich die Sache einmal anschauen, ob alles mit rechten Dingen zugeht …«
Der Garuda namens Charlie ging hin und setzte ihm die Faust mitten ins Gesicht.
Der Tat folgte ein allgemeiner Aufschrei. In einem Tumult aus Flügeln und Federn stoben die Garuda in den Himmel. Einige kreisten nur kurz und landeten wieder, um wachsam die weitere Entwicklung zu verfolgen, viele andere jedoch verschwanden in den oberen Stockwerken der anderen drei Wohntürme oder in der Weite des wolkenlosen Himmels.
Charlie beugte sich über sein benommen am Boden kniendes Opfer.
»Wer ist der Boss?«, brüllte er mit schneidend scharfer Raubvogelstimme. »Wer ist der Boss?«
Lin zupfte Isaac am Ärmel, zog ihn in Richtung Tür. Er sträubte sich halbherzig. Einmal war er bestürzt über die Folgen seines unschuldigen Anliegens, zum anderen fasziniert von dem Machtkampf, den er damit provoziert hatte. Er gab ihrem Drängen nur widerstrebend nach.
Der besiegte Garuda blickte zu Charlie auf.
»Du bist der Boss«, murmelte er.
»Ich bin der Boss! Ich bin der Boss, weil ich auf euch aufpasse, stimmt’s? Ich sorge dafür, dass es euch gut geht, stimmt’s? Und was predige ich euch immer und immer wieder? Haltet euch fern von den Bleibäuchen! Und haltet euch fern von den Anthros! Das sind die Schlimmsten, sie fallen über euch her, reißen euch die Flügel aus, schlagen euch tot. Traut keinem von ihnen! Und das gilt auch für Dickwanst mit der fetten Brieftasche da drüben.« Zum ersten Mal während seiner Tirade richtete er den Blick auf Isaac und Lin.
»Du!« Er zeigte auf Isaac. »Verpiss dich, bevor ich dir Fliegen beibringe – von hier oben bis ganz nach unten!«
Lin erkannte an Isaacs Mienenspiel, dass er nach Worten suchte, zu einer letzten versöhnlichen Erklärung ansetzen wollte. Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf und zerrte ihn mit einem Ruck durch die Tür.
Du musst lernen zu erkennen, wann es Zeit ist
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