Perdido Street Station 01 - Die Falter
zu gehen, zeigte Lin auf dem Weg die Treppe hinunter. Sie war zornig.
»Schon gut, Lin! Dammich, ich verstehe, was du meinst.« Er wuchtete sich die Stufen hinunter, diesmal ganz ohne Jammern und Wehklagen. Über seinem Grimm und seiner Verwirrung vergaß er die Anstrengung.
»Ich verstehe einfach nicht«, ereiferte er sich, »weshalb sie sich so verdammt feindselig verhalten haben …«
Lin fuhr herum und verstellte ihm den Weg.
Weil sie fremd hier sind und arm und voller Angst, du Kretin, zeigte sie langsam und deutlich. Großer fetter Bastard mit viel Geld kommt nach Spatters – keine noble Adresse, aber ihr einziges Zuhause – und will sie weglocken, in Feindesland und aus Gründen, die er nicht erklärt. Ich finde, Charlie hat vollkommen Recht. Hier braucht man jemanden, der aufpasst. Wenn ich ein Garuda wäre, würde ich auf ihn hören, das kann ich dir sagen.
Isaac beruhigte sich allmählich, er sah sogar etwas zerknirscht aus. »Du hast Recht, Lin. Ich hätte erst Nachforschungen betreiben sollen, mir jemanden besorgen, der sich auskennt, einen Vermittler …«
Genau! Aber damit ist jetzt Essig. Du kriegst keine zweite Chance, das hast du verbockt …
»Vielen Dank für den Hinweis …« Seine Miene wurde düster. »Gottschietdonnerwetternochmal!«
Lin schwieg.
Sie schwiegen beide auf dem Rückweg. Verfolgt von neugierigen Blicken durch Flaschenbodenfenster und aus offenen Türen, kehrten sie auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.
Wieder an dem breiten Graben voller Unaussprechlichem angelangt, schaute Lin über die Schulter zu den heruntergekommenen Wohntürmen und dem Dach, auf dem sie gestanden hatten.
Sie sah einen kleinen Schwarm junger Garuda, die es sich offenbar angelegen sein ließen, ihnen zu folgen, gemächlich in der Luft herumtrudelten und von oben anzügliche Gesten machten.
Lin und Isaac stiegen den Vaudois Hill hinauf.
Irgendwann brach Isaac das Schweigen. Seine Stimme klang nachdenklich. »Lin, vorhin hast du gesagt, wenn du ein Garuda wärst, hättest du auf ihn gehört, auf diesen Charlie. Also, du bist zwar nicht Garuda, aber du bist Khepri … Als du dich entschlossen hast, Kinken zu verlassen und unter Menschen zu leben, hat man dir bestimmt gesagt, das ist eine Dummheit, halte dich an Deinesgleichen, den Menschen ist nicht zu trauen und so weiter. Der Punkt ist, Lin, du hast nicht auf sie gehört, stimmt’s?«
Lin dachte lange schweigend nach, aber sie gab ihm keine Antwort.
KAPITEL 14
»Komm schon, zier dich nicht. Friss endlich, um Jabbers willen …«
Die bunte Raupe lag kraftlos auf der Seite. Ab und zu runzelten Wellen über ihre zu groß gewordene Haut, oder sie bewegte nach Nahrung suchend den Kopf hin und her. Isaac beugte sich über sie, schnalzte besorgt mit der Zunge, redete ihr zu wie einem kranken Kind. Wenn er sie mit einem Hölzchen anstieß, wand sie sich unbehaglich, dann lag sie wieder still.
Isaac richtete sich auf und warf das Hölzchen weg.
»Ich gebe auf«, verkündete er. »Du kannst nicht sagen, ich hätte es nicht versucht.«
Er kehrte dem kleinen Kasten mit den modernden Futterresten den Rücken. Noch immer stapelten sich Käfige auf der Empore, noch immer erschallte das misstönende Konzert aus Krächzen und Zischen und Schnattern, aber der Vorrat an Versuchstieren war dennoch erheblich geschrumpft. Viele der Kästen und Drahtbehälter standen offen und waren leer. Weniger als die Hälfte der ursprünglichen Lieferung war noch übrig.
Ein paar seiner Studienobjekte hatte Isaac durch Krankheit verloren, einige durch Kämpfe untereinander und einige durch seine Experimente. Hier und dort sah man etliche kleine Leiber in verschiedenen Posen an Bretter genagelt. Eine kaum überschaubare Masse von Skizzenblättern bedeckte die Wände. Die ersten Zeichnungen von Fittichen und Bewegungsabläufen hatten sich um ein Vielfaches multipliziert.
Isaac trat an den Schreibtisch, er strich mit den Fingerspitzen über die auf der Platte verstreuten Diagramme. Das zuoberst liegende Blatt trug die Skizze eines Dreiecks mit einem Kreuz in der Mitte. Er schloss die Augen gegen die erbarmungslosen Dissonanzen.
»Verflucht, seid still, alle miteinander«, brüllte er, aber das Gelärme ging weiter wie vorher. Isaac griff sich gequält mit beiden Händen an den Kopf.
Der so kläglich gescheiterte Ausflug nach Spatters lag ihm noch schwer im Magen. Wie unter einem Zwang ließ er die Ereignisse immer wieder an seinem geistigen Auge
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