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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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vorbeiziehen und grübelte, was er anders hätte machen können oder sollen. Arrogant und dumm war er gewesen, draufloszumarschieren wie ein kühner Abenteurer und sein Geld zu schwenken, als sei es eine thaumaturgische Waffe. Lin hatte Recht. Es war kein Wunder, wenn er bei der gesamten Garudabevölkerung der Stadt als Persona non grata firmierte. Er war mit ihnen umgesprungen wie mit billigem Gesocks, dass man einschüchtern und kaufen konnte. Er hatte sie behandelt wie Lemuel Girrvogels Handlanger. Aber sie waren weder Gesocks noch Kriminelle. Sie waren eine arme, verängstigte Minderheit, die in einer ungastlichen Stadt ums Überleben kämpfte und um ein Restchen Stolz. Sie mussten erleben, wie ihre Nachbarn von Vigilanten abgeknipst wurden – zum Spaß. Sie lebten ihr Leben im Rahmen einer alternativen Ökonomie, basierend auf Jagd und Tauschhandel, Wilderei im Rudewood und kleineren Plünderungen. Ihre Gesetze waren brutal, aber durchaus nachvollziehbar.
    Und nun hatte er es sich mit ihnen verdorben. Isaac ließ den Blick über die Hunderte von Skizzen und Heliotypen und Diagrammen wandern, die er angefertigt hatte. Genau wie gestern, dachte er. Der direkte Weg funktioniert nicht. Mein erster Ansatz war der richtige. Das Heil liegt nicht in der Aerodynamik, damit verschwende ich nur Zeit … Der schrille Gefangenenchor störte seinen Gedankengang.
    »Also gut!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, richtete sich auf und funkelte die eingesperrten Tiere an, wie um sie herauszufordern, mit ihrem Krakeel weiterzumachen. Was sie natürlich taten.
    »Also gut!«, wiederholte er, griff sich den vordersten Käfig, in dem ein Taubenpärchen federstiebend von einer Seite zur anderen flatterte und sich aufplusterte. Er trug den Käfig zu einem der großen Fenster und stellte ihn ab. Er holte den nächsten, in dem sich eine schillernde Libellenschlange ringelte, und stellte ihn auf den ersten. Diesen beiden folgte ein Gazebehälter mit Stechmücken und ein zweiter mit Bienen, dann ein Holzkasten mit Fledermäusen, verdrossen ob der Störung, und in der Sonne dösende Aspis.
    Er räumte den gesamten Rest seiner Menagerie hinüber vor das Fenster über dem Canker. Den Tieren bot sich Aussicht auf die Rippen, die sich drohend über den Ostteil der Stadt krümmten. Isaac stapelte sämtliche Behältnisse mit ihren Insassen vor der Scheibe zu einer Pyramide. Es sah aus wie Vorbereitungen zu einem Opferfeuer.
    Endlich war es vollbracht. Jäger und Gejagte flatterten und kreischten dicht an dicht neben- und übereinander, getrennt nur durch Bretter oder dünne Gitterstäbe.
    Isaac schob unter einigen Verrenkungen die Hand in den schmalen Spalt zwischen Glas und Käfigstapel und drückte das große, fünf Fuß hohe Schwingfenster auf. Zusammen mit einem Schwall der warmen Abendluft drang das Brausen der großen Stadt herein.
    »Und jetzt«, schrie Isaac, der allmählich Spaß an der Sache bekam, »betrachtet euch als fristlos entlassen!«
    Er schaute sich suchend um, ging zum Schreibtisch und holte einen langen Stab, der ihm in den längst vergangenen Tagen seines Lehrauftrags als Zeigestock gedient hatte. Damit stocherte er zwischen den Käfigen herum, schnippte Haken aus Ösen, schob Riegel auf, riss Löcher in seidendünnes Drahtgewebe.
    Die Fronten der kleinen Zellen taten sich auf. Isaac beeilte sich, öffnete die letzten Klappen und Türchen, nahm die Finger zur Hilfe, wo der Stock nicht subtil genug war.
    Zuerst waren die Tiere verwirrt. Viele hatten seit Wochen die Flügel nicht regen können. Man hatte sie schlecht gefüttert. Sie waren abgestumpft und verängstigt. Die plötzliche Weite war zu viel für sie, die Helligkeit, der fremd gewordene Geruch frischer Luft. Doch nach dieser anfänglichen Minute des Zögerns gab es kein Halten mehr.
    Als Erstes wagte eine Eule den Flug in die Freiheit.
    Sie stob durch den Fensterspalt und segelte davon, nach Osten, wo der Himmel am dunkelsten war, in Richtung der Wälder um Iron Bay. Fast ohne Flügelschlag strich sie zwischen den Rippen hindurch.
    Ihr Beispiel war ein Signal. Ein Sturm brach los.
    Falken, Motten, Fiedertiere, Aspis, Pferdebremsen, Sittiche, Käfer, Elstern, Bewohner der oberen Luftschichten, kleine Wasseroberflächenjäger, Geschöpfe der Nacht, des Tages und des Zwielichts, quollen in einer schillernden Wolke aus Tarnfarben und Farbenpracht aus Isaacs Fenster. Die Sonne war hinter das Warenhaus gesunken. Das einzige Licht auf Federn, Fell und Chitin stammte

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