Perdido Street Station 01 - Die Falter
ihm ein, die er der Raupe zu fressen gegeben hatte. Er schaute sich um und sah, dass der Umschlag mit dem restlichen Dreamshit unberührt noch an derselben Stelle lag wie am Abend zuvor. Sie war also nicht ausgebüxt und hatte sich voll gefressen. Doch unmöglich konnten die paar Drogenpillen, die sie von ihm bekommen hatte, so kalorienreich gewesen sein, dass sich ein derartiges Wachstum damit erklären ließ. Selbst wenn sie das Futter Gramm für Gramm in Gewicht umgesetzt hätte, wäre sie nicht so hefeartig aufgequollen.
»Was immer in deinem Abendbrot gesteckt hat«, sagte er leise, »ist nicht allein Speise für den Leib. Was, in Jabbers Namen, bist du für ein Unikum?«
Jedenfalls brauchte das Unikum eine neue Behausung. Die Raupe wirkte unglücklich, wie sie da eingezwängt herumtastete. Isaac zögerte, einmal, weil ihn der kalte Hauch des Unerklärlichen anwehte, zum anderen, weil er sich ekelte, das seltsame Vieh zu berühren. Schließlich nahm er den Kasten, der so schwer geworden war, dass er nachfassen musste, und hielt ihn in einen viel größeren Käfig, verwaistes Heim einer in die Freiheit entlassenen Kanarienvogelfamilie. Er öffnete den Kasten und ließ die Riesenraupe in das Sägemehl rollen, das den Boden bedeckte, dann schloss und verriegelte er hastig die mit Maschendraht bespannte Vordertür der Voliere.
Aufatmend betrachtete er seine umquartierte Gefangene.
Sie schaute ihn an, und er spürte ihre kindlichen Bitten um Frühstück.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Erst werde ich mich stärken.«
Er drehte sich um und ging auf Beinen wie aus Gummi zu seiner Wohnecke.
Bei seinem Frühstück aus Obst und süßen Brötchen merkte Isaac, dass die Nachwehen seines Trips sich schnell und spurlos verflüchtigten. Man wacht vielleicht mit einem verdammt üblen Kater auf, dachte er sarkastisch, aber das Elend dauert nicht länger als eine Stunde. Kein Wunder, dass die Junkies Schlange stehen.
Am anderen Ende der Empore buckelte die fußlange Raupe durch ihre neue Behausung. Sie wühlte deprimiert in der Sägemehlstreu, dann reckte sie den Oberkörper in die Höhe und pendelte sich mit der Unfehlbarkeit einer Kompassnadel auf die Richtung ein, in der das Päckchen mit Dreamshit lag.
Isaac hielt sich die Hand vors Gesicht.
»Zwiegeschwänzter Seibeiuns!«, stöhnte er. Mulmigkeit und wissenschaftliche Neugier ergriffen vereint von ihm Besitz. Es war eine kindliche Erregung, wie von Jungen und Mädchen, die mit dem Vergrößerungsglas Sonnenstrahlen einfingen und auf Insekten lenkten, um zu sehen, wie sie verschmurgelten. Er stand auf, nahm mit einem großen Holzlöffel eine Portion Dreamshit aus dem Päckchen und trug ihn zu der Raupe, die vor Aufregung beinahe tanzte, als sie die näher kommende Nahrung sah oder witterte oder sonstwie wahrnahm. Isaac öffnete die kleine Futterluke in der Rückwand der Voliere und schüttete den Löffel Dreamshit hinein. Augenblicklich schnellte der Kopf der Raupe vor, und sie saugte sich daran fest. Ihre Mundpartie war nach dem rätselhaften nächtlichen Wachstum so groß, dass man die gierigen Fressbewegungen deutlich verfolgen konnte.
»Einen größeren Käfig wirst du nicht bekommen«, warnte Isaac, »also hübsch langsam mit dem Wachsen, verstehen wir uns?«
Er wandte sich ab und hob nacheinander die verstreut herumliegenden Kleidungsstücke auf und schnupperte daran. Schließlich zog er ein Hemd und eine Hose an, die geruchsfrei waren und nahezu fleckenlos.
Ich sollte mir eine Liste dringender Erledigungen machen, dachte er grimmig. Und ganz oben steht: »Lucky Gazid erschlagen«. Er stapfte zum Schreibtisch. Das VFT-Dreieck, das er für Yagharek gezeichnet hatte, lag zuoberst auf den papiernen Wanderdünen. Isaac betrachtete es mit gespitzten Lippen, hob es auf und schaute nachdenklich zu seiner selbstvergessen mampfenden Wunderraupe. Es gab noch etwas, das an diesem Vormittag erledigt werden musste.
Sinnlos, es aufzuschieben, sagte er sich. Vielleicht kann ich für Yagharek ein paar Dinge klären und etwas über meine Freundin hier in Erfahrung bringen … Tief aufseufzend krempelte er die Ärmel auf und setzte sich dann für eine seltene und flüchtige Inspektion seiner äußeren Person vor den Spiegel. Fahrig machte er sich an seinem Haar zu schaffen, stöberte ein anderes, besseres Hemd auf, das er gegen das alte austauschte, alles mit einer Miene verachtungsvoller Geringschätzung gegenüber Äußerlichkeiten.
Er hinterließ eine Notiz für
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