Perdido Street Station 01 - Die Falter
Vermishank mit dünner Tenorstimme zu singen: »Und Cally flog in den Himmel hinein / auf seinen Regenschirmschwingen / winkt seinem Liebchen Ade / und ging verloren, o weh / im Land von den Schrecklichen Dingen …«
»Natürlich kenne ich das«, sagte Isaac. »Aber ich wusste nicht, dass es einen realen Hintergrund hat.«
»Weil Sie nie meinen Einführungskurs in Biothaumaturgie belegt haben. Wie ich mich erinnere, haben Sie sich erst später für zwei Semester eingeschrieben. Sie haben meine erste Vorlesung verpasst. Calligines Geschichte ist der Köder, mit dem ich unsere jungen Nachwuchsforscher auf den Pfad dieser noblen Wissenschaft zu locken versuche.« Vermishank sprach mit absolut ausdrucksloser Stimme. Isaac fühlte seine Abneigung wiederkehren, hoch zwei. »Calligine verschwand«, fuhr Vermishank fort. »Er flog nach Südwesten, in Richtung des Malakornukopischen Flecks. Ward nie wieder gesehen.«
Langes Schweigen.
»Ist das alles?«, fragte Isaac schließlich. »Wie hat man die Flügel transplantiert? Gibt es Aufzeichnungen? Welche Methoden hat er angewandt?«
»Nach meiner Ansicht muss es ein äußerst komplizierter Prozess gewesen sein. Ich nehme an, Calligine ist durch empirische Forschung zu dem exakten Procedere gelangt.« Vermishank griente. »Wahrscheinlich hat er bei Bürgermeister Mantagony ein paar Gefälligkeiten eingefordert, und ein paar zum Tode verurteilte arme Sünder durften ein paar Wochen länger leben als erwartet. Nicht unbedingt ein Detail seiner verdienstvollen Arbeit, über das er sich des Langen und Breiten ausgelassen haben wird. Doch es ist nun einmal so, dass erst Übung den Meister macht, nicht wahr? Ich meine, man muss den fraglichen Mechanismus mit Knochen und Muskeln und so weiter verbinden, die nicht die leiseste Ahnung haben, was sie tun sollen …«
»Aber wenn die Muskeln und Knochen es nun wüssten? Wenn zum Beispiel ein – ein Wyrmen seine Flügel verloren hätte. Könnte man sie ersetzen?«
Vermishank musterte Isaac sinnend, Kopf und Augen starr wie Stein.
»Ha«, sagte er nach einer Weile halblaut. »Da hat sich jemand das einfacher vorgestellt, stimmt’s? Einfach ist es, in der Theorie, in der Praxis jedoch eher noch schwieriger. Ich habe selbst Experimente durchgeführt, mit Vögeln und mit – nun ja, mit anderen geflügelten Lebewesen. Vorweg gesagt, Isaac, in der Theorie ist es durchaus machbar. Theoretisch lässt sich mit Remaking so gut wie alles bewerkstelligen, die einzigen Grenzen sind die der Fantasie. Alles nur eine Frage von richtiger Verkabelung und Sarkoplastik. Aber Flügel bereiten die größten Probleme, weil man mit einer Vielfalt von Variablen zu tun hat, die alle hundertprozentig stimmen müssen. Man kann einem Hund mittels Remaking ein abgetrenntes Bein wieder annähen oder mit einer Gestaltformel ansetzen, und das Tier wird vergnügt von dannen hinken. Sieht vielleicht nicht schön aus, aber es kann laufen. Anders bei Flügeln. Flügel müssen perfekt sein, oder sie sind nicht zu gebrauchen. Paradoxerweise ist es sogar schwieriger, Muskeln einen anderen als den gewohnten Bewegungsablauf beizubringen, wenn sie schon zu wissen glauben, was sie tun müssen. Muskeln, die keine Ahnung haben, sind leichter zu motivieren. Dein Vogel, oder was immer du in Arbeit hast – seine Schultern geraten aus dem Konzept durch einen Flügel, der nicht ganz die richtige Form hat, nicht ganz die richtige Größe, oder der auf einer anderen Aerodynamik basiert. Schließlich sind sie vollkommen blockiert, selbst angenommen, dass man alles richtig verknüpft hat.
Zusammengefasst lautet meine Antwort auf die bewusste Frage: Ja, es ist möglich. Diesem Wyrmen, oder was es auch sei, kann durch Remaking wieder in die Luft geholfen werden. Aber wie gesagt, theoretisch. Kein Biothaumaturg, kein Remaker könnte eine Erfolgsgarantie geben. Entweder muss man Calligine suchen und finden, damit er die Operation durchführt, oder …«, Vermishank kicherte lautlos, »ich würde die Finger davon lassen.«
Isaac dolchte einen Punkt hinter das letzte Wort und klappte den Notizblock zu.
»Vielen Dank, Vermishank. Irgendwie hoffte ich, Sie würden zu diesem Schluss kommen. Das ist Ihre professionelle Meinung, ja? Gut. Dann muss ich eben meinen anderen Weg weiterverfolgen, der übrigens ganz und gar nicht Ihren Beifall finden würde.« Er verdrehte die Augen wie ein unartiger Bengel.
Vermishank nickte leicht, und ein galliges, kleines Lächeln wuchs und verging um
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