Perdido Street Station 02 - Der Weber
ich bringe ihn um …«
Lemuel musterte ihn beunruhigt. Das schaffst du nicht, Alter, dachte er. Das schaffst du ganz bestimmt nicht.
»Lin – wollte mir nicht sagen, für wen sie gearbeitet hat«, sagte Isaac. Seine Stimme klang etwas gefasster.
Lemuel nickte. »Kann ich mir vorstellen. Die meisten Leute haben nie von ihm gehört. Gerüchteweise vielleicht, mehr nicht.«
Isaac erhob sich mit einem Ruck. Er wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht und zog die Nase hoch. »Wir müssen sie suchen. Wir müssen sie suchen und befreien. Denken wir nach. Denken. Dieser Vielgestalt glaubt, ich hätte ihn über den Löffel balbiert, was nicht der Wahrheit entspricht. Also, wie kann ich ihn dazu bringen, dass er einen Rückzieher macht …«
»Isaac, Alter …«
Lemuel wusste nicht, was er sagen sollte. Er schluckte und wandte den Blick ab, dann ging er mit beschwichtigend erhobenen Händen langsam auf ihn zu.
Derkhan musterte ihn und da war es wieder, das Mitleid: hinter Schroffheit verborgen, aber doch sichtbar. Lemuel schüttelte bedächtig den Kopf. Seine Augen waren hart, aber seine Lippen bewegten sich lautlos, als er nach den richtigen Worten suchte.
»Isaac, ich habe mit Vielgestalt zu tun gehabt. Auch wenn ich ihm nie persönlich begegnet bin, ich kenne ihn. Ich kenne seine Methoden. Ich weiß, wie ich ihn anpacken muss, ich weiß, wozu er fähig ist. Ich habe so etwas wie das hier schon früher gesehen, genau dieses Szenario. Isaac …«
Er holte tief Atem. »Lin ist tot.«
Isaac heulte laut auf, er ballte die Fäuste und schwenkte sie wild um den Kopf. »Nein, das ist sie nicht!«
Lemuel ergriff seine Handgelenke und hielt sie fest, nicht brutal, sondern mit sanfter Gewalt, um ihn zu zwingen, dass er Vernunft annahm, zuhörte. Isaac hielt einen Moment still, seine Miene war argwöhnisch und zornerfüllt.
»Sie ist tot, Isaac«, wiederholte Lemuel eindringlich. »Tut mir Leid, aufrichtig. Es tut mir Leid, aber sie ist nicht mehr am Leben.« Er ließ los und trat zurück.
Isaac stand mit kraftlos hängenden Armen da, wie vor den Kopf geschlagen. Sein Mund ging auf, als ob er schreien wollte. Lemuel wandte den Blick ab und sprach langsam und leise vor sich hin, wie zu sich selbst.
»Weshalb sollte er sie am Leben lassen? Es brächte ihm keinen Nutzen. Sie wäre eine – eine zusätzliche Komplikation, weiter nichts. Ein Störfaktor, den man besser eliminiert. Zumal«, er hob die Stimme und zeigte auf Isaac, »er erreicht hat, was er erreichen wollte. Dass du zu ihm kommst. Er hat seine Rache und er hat dich an der Angel. Er will dich in seine Gewalt bekommen, egal wie. Und wenn er sie am Leben lässt, besteht immer die Möglichkeit, dass sie Schwierigkeiten macht. Aber wenn er sie dir als Köder vor die Nase hält, wirst du in die Höhle des Löwen stürmen, wie oder was auch immer, solange du nur glaubst, dass sie noch lebt. Auch wenn sie längst tot ist.« Isaacs Augen trübten sich und Lemuel redete schnell weiter. »Lass dir gesagt sein: Wenn du ihn treffen willst, wo es ihn am meisten schmerzt, sorg dafür, dass Vielgestalt die Falter nicht wieder in die Finger kriegt. Er wird sie nämlich nicht töten, o nein. Er wird sie hegen und pflegen, um Dreamshit von ihnen zu bekommen.«
Isaac marschierte mit stampfenden Schritten durch das Zimmer und fluchte und drohte und verneinte. Er stürzte sich auf Lemuel, redete auf ihn ein, wirr, unzusammenhängend, versuchte, ihn zu überzeugen, dass er sich irrte. Lemuel konnte die Selbstquälerei nicht länger mit ansehen. Er schloss die Augen und durchschnitt mit eisiger Logik den verzweifelten Wortschwall.
»Wenn du zu ihm gehst, Isaac, wird Lin nicht weniger tot sein. Du aber entschieden weniger lebendig.«
Isaac verstummte. Schwer atmend, am ganzen Körper zitternd, schaute er auf den toten Lucky Gazid am Tisch, dann zu Yagharek, stumm und vermummt in einer Ecke des Zimmers, zu Derkhan mit Tränen in den Augen, zu Lemuel, der ihn abwartend musterte.
Isaac fing an zu weinen.
Isaac und Derkhan saßen nebeneinander auf dem Bett, hielten sich umschlungen und weinten.
Lemuel ging steifbeinig hinüber zu Gazids stinkendem Kadaver und kniete davor nieder. Mit der einen Hand hielt er sich Mund und Nase zu, mit der anderen erbrach er das Siegel aus schorfigem Blut, das Gazids Jackett verschloss, und durchsuchte die Taschen nach Geld, Informationen. Nichts.
Er stand auf und ließ den Blick durchs Zimmer wandern. Sein Denken war strategisch
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