Perdido Street Station 02 - Der Weber
Lemuel beschrieben hatte, ihr die Flügel ausriss.
Unwillkürlich stiegen aus seiner Kehle die Schmerzenslaute, die ihr verwehrt waren, und gleich kam Derkhan und bemühte sich, ihn zu trösten. Er weinte oft, manchmal still, manchmal laut und wild. Er heulte vor Kummer wie ein Wolf.
Bitte, flehte er zu Menschen- und schließlich zu Kheprigöttern, Solenton und Jabber – und Amme und Künstler –, gebt, dass sie schnell gestorben ist, ohne Schmerzen.
Doch er wusste, dass sie wahrscheinlich geschlagen und gequält worden war, bevor man sie tötete, und diese Vorstellung raubte ihm schier den Verstand.
Der Sommer streckte das Tageslicht wie auf einer Folterbank. Jeder Augenblick wurde gedehnt, bis seine Anatomie zerbrach. Zeit zerbröckelte. Der Tag vertickte in einer endlosen Sequenz erstorbener Momente. Vögel und Wyrmen hingen im Blau wie Schmutzteilchen im Wasser. Kirchenglocken läuteten dumpf, hohl klangen die Hymnen an Palgolak und Solenton. Die Flüsse wälzten sich bleiern nach Norden.
Isaac und Derkhan blickten auf, als am späten Nachmittag Yagharek wiederkehrte, sein Kapuzenumhang schon ausgebleicht von dem gleißenden Licht. Er verriet nicht, wo er gewesen war, aber er brachte etwas zu essen mit, das sie sich teilten. Isaac gewann etwas von seiner Fassung wieder. Er verdrängte den Schmerz. Biss die Zähne zusammen.
Nach nicht enden wollenden Stunden monotonen Tagesglastes verlängerten sich die Schatten an den Flanken der Berge. Bevor sie hinter den Gipfeln versank, färbte die Sonne die Westseiten der Häuser bonbonrosa; ihre letzten Strahlen verloren sich in dem tiefen Einschnitt des Penitent’s Pass. Noch lange, nachdem sie untergegangen war, bewahrte der Himmel ihr Licht. Es herrschte immer noch Dämmerung, als Lemuel zurückkam.
»Ich habe unsere Bredouille mit einigen Kollegen diskutiert«, berichtete er. »Ich fand, es wäre möglicherweise ein Fehler, dass wir uns auf einen definitiven Plan festlegen, bevor wir gesehen haben, was immer wir heute Abend sehen werden. Unser Rendezvous in Griss Twist, ihr versteht. Aber ich kann hie und da auf etwas Unterstützung zurückgreifen. Alte Gefälligkeiten und so weiter. Anscheinend halten sich ein paar ernst zu nehmende Aventuriers in der Stadt auf, die sich brüsten, sie hätten jüngst aus den Ruinen von Tashek Rek Hai einen größeren Trollschatz geborgen. Vielleicht sind sie an ein wenig bezahlter Arbeit interessiert.«
Derkhan musterte ihn mit unverhohlener Ablehnung, dann zuckte sie unwillig die Schultern. »Ich weiß, sie sind mit die härtesten Typen in Bas-Lag«, sagte sie langsam. Es kostete sie Mühe, sich auf dieses neue Thema zu konzentrieren. »Aber ich traue der Sorte nicht über den Weg. Sie suchen die Gefahr und die Erregung. Und die meisten sind absolut skrupellose Grabräuber. Alles für Gold und Nervenkitzel. Außerdem wette ich, wenn wir ihnen erzählen, worum es wirklich geht, werden sie den Schwanz einziehen. Wir haben keine Ahnung, wie man diesen Faltern zu Leibe rücken kann.«
»Gut gebrüllt, Blueday.« Lemuel nickte ihr zu. »Aber ich sage dir, so, wie die Dinge stehen, nehme ich jede Hilfe an, die ich verflucht noch mal kriegen kann. Du verstehst mich? Warten wir ab, was heute Nacht passiert. Dann können wir entscheiden, ob wir die Typen anheuern oder nicht. Was meinst du, Isaac?«
Isaac hob den Kopf so langsam, als lastete eine zentnerschwere Bürde auf seinem Nacken. Sein Blick kehrte wie aus unermesslicher Ferne zurück.
»Sie sind Abschaum«, sagte er. »Aber wenn sie was taugen …«
Lemuel nickte. »Wann brechen wir auf?«
Derkhan schaute auf die Uhr. »Es ist neun«, sagte sie. »Um zehn Uhr sollen wir vor Ort sein. Rechnen wir eine halbe Stunde für den Weg, zur Sicherheit.« Sie wandte sich ab und schaute durch das Fenster in den dunkelnden Himmel.
Gleistrossen summten, Milizgondeln flogen über den Dächern der Stadt hin und her. An strategischen Punkten wurden Elitekommandos stationiert. Sie trugen merkwürdige Rucksacke, voll gepackt mit geheimnisvollen, unförmigen Ausrüstungsgegenständen in Hüllen aus Leder. Die Auserwählten machten ihren neidischen Kameraden in den Türmen und Beobachtungsposten die Tür vor der Nase zu und warteten in versteckten Quartieren auf ihren Einsatz.
Luftschiffe kreuzten in größerer Zahl als sonst durch den Himmel, ließen die Signalhörner dröhnen, wenn sie sich begegneten. An Bord befanden sich Sondereinheiten der Miliz, die ihre ungeschlachten
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