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Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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kreuzförmigen Fleck näher kommen, schlingernd, taumelnd, dennoch schrecklich zielstrebig. Derkhan und Yagharek erspähten ihn ebenfalls; ihr Sträuben erlahmte zu völliger Bewegungslosigkeit.
    Die befremdliche Silhouette am Himmel wurde rasch größer und größer. Isaac kniff die Augen zu, dann riss er sie wieder auf. Er musste die Kreatur sehen.
    Sie kam näher, ließ sich ruckartig ein Stück fallen und strich langsam über den Fluss dahin. Vielfältige Gliedmaßen öffneten und schlossen sich in alternierendem Zusammenspiel, manövrierten in komplexen Bewegungsabläufen.
    Selbst aus dieser Entfernung und trotz seiner Angst erkannte Isaac, dass es sich bei diesem Falter, der es auf ihn abgesehen hatte, um ein verkümmertes Exemplar handelte, verglichen mit der mörderischen, raubtierhaften Perfektion desjenigen, der über Barbile hergefallen war. Die Windungen und Falten, die beliebig erscheinenden Flächen und Raffungen von Fleisch und Haut jener todbringenden Vollkommenheit, waren Funktionen innerhalb einer nicht nachvollziehbaren, nicht menschlichen Symmetrie gewesen, Zellen, die sich multiplizierten wie obskure, imaginäre Zahlen. Dieser jedoch, dieses heftig flatternde Exemplar mit knorrigen Extremitäten, missgestalteten oder unfertigen Körpersegmenten, die organischen Waffen schon in der Anlage stumpf und mangelhaft – dies war ein Kümmerling, ein Krüppel.
    Es war der Gierfalter, den Isaac mit verunreinigter Nahrung aufgezogen hatte. Der Falter, der die Säfte aus Isaacs eigenem Gehirn gekostet hatte, während er im Drogenrausch fantasierte. Immer noch suchte er, diesen Geschmack wiederzufinden, jene erste, köstliche Andeutung eines reineren Genusses.
    Dieses Produkt einer Metamorphose, die nicht hätte sein dürfen, erkannte Isaac, war der Ursprung all der jüngsten Heimsuchungen.
    »O gütiger Jabber«, flüsterte er mit schwankender Stimme, »beim zwiegeschwänzten Seibeiuns … Götter, seid mir gnädig …«
     
    Der Gierfalter landete in einer stiebenden Wolke aus anorganischem Staub und legte bedächtig die Flügel an.
    Wie er auf dem Boden hockte, mit gekrümmtem, angespanntem Rücken, war es eine Pose äffischer Aggressivität. Die Arme – mangelhaft entwickelt, aber dennoch grausame Mordwerkzeuge – hielt er wie ein Jäger zum Coup de grâce. Er schwenkte den länglichen, schmalen Kopf von einer Seite zur anderen, die Fühler in den Augenhöhlen wedelten forschend.
    Ringsum bewegten sich Konstrukte. Der Gierfalter nahm keine Notiz von ihnen. Sein gefräßiges, grob geschlitztes Maul entließ die lüsterne Zunge, die wie ein ellenlanges breites Band über die Versammlung schnellte.
    Derkhan wimmerte, und der Falter erschauerte.
    Isaac wollte ihr zurufen, sie solle still sein, ihn nicht auf sich aufmerksam machen, aber er brachte keinen Ton heraus.
    Die Wellen von Isaacs Bewusstsein oszillierten im Rhythmus eines Herzschlags, versetzten die Psychosphäre der Müllhalde in Schwingungen. Der Falter konnte sie schmecken, erkannte das spezielle Aroma, dessen er sich von früher entsann. Die anderen kleinen Häppchen, die er außerdem noch witterte, waren unbedeutend daneben, weiter nichts als Beilagen zu einem Festmahl. Vor freudiger Erwartung bebend, wandte der Falter sich von Yagharek und Derkhan ab und Isaac zu. Bedächtig stellte er sich auf vier seiner Gliedmaßen, öffnete mit einem leisen, kindlichen Zischen das Maul und entfaltete seine mesmerischen Schwingen.
     
    Isaac wollte die Augen schließen. Ein kleiner, mit Adrenalin getränkter Teil seines Gehirns entwickelte fieberhafte Rettungsstrategien.
    Jedoch er war so müde, so benommen, so elend und hatte so große Schmerzen, dass er zu lange zögerte. Vage, verschwommen anfangs, drängten die Flügel des Gierfalters in seine Wahrnehmung.
    Die rieselnde Flut der Farben erblühte anemonengleich, ein sachtes, geisterhaftes Auffächern faszinierender Nuancen. Die links wie rechts vollkommen spiegelgleichen, mitternachtsbunten Tinkturen schlüpften wie Diebe Isaacs Sehnerv hinab und flossen über seinen Verstand.
    Isaac sah, wie der Gierfalter langsam über den freien Platz auf ihn zustakte; sah die makellos symmetrischen, geflammten Schwingen leise fächeln und ihn in ihrem betörenden Farbenspiel baden.
    Und dann koppheisterte sein Verstand, als wäre irgendwo ein Rädchen gebrochen, und es gab nichts mehr außer einem Schwall Träume. Ein Allerlei aus Erinnerungen und Eindrücken und Bedauern sprudelte aus seinem Innern empor.
    Es war

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