Perdido Street Station 02 - Der Weber
er gelogen. Vielleicht ist noch einer gestorben.
Oder vielleicht«, setzte er hinzu, »vielleicht ist einer hier geblieben und wartet auf uns.«
KAPITEL 11
Die Kaktuspatrouillen hatten sich am Fuß des Tempels zusammengescharrt und debattierten mit den übrig gebliebenen Kaktusältesten.
Shadrach hockte in einer Gassenmündung in Deckung der Hauswand und brachte aus irgendeiner verborgenen Tasche ein Perspektiv zum Vorschein. Er zog es ganz aus und ließ es über das gestikulierende Knäuel von Kaktusleibern wandern.
»Sie wissen offenbar wirklich nicht, was sie tun sollen«, brummte er.
Die anderen drückten sich hinter ihm an die feuchte Mauer und machten sich so unsichtbar wie möglich in den huschenden Schatten der Fackeln, die über ihnen spuckten und blakten.
»Das muss der Grund für diese Ausgangssperre sein. Die Falter, die nachts auf Beute gehen. Natürlich könnte es auch eine Dauereinrichtung sein. Wie auch immer«, er drehte sich zu den Gefährten herum, »uns kommt sie zupass.«
Tatsächlich konnten sie sich unentdeckt und unbehelligt durch die dunklen Straßen bewegen. Sie folgten Pengefinchess, die sich in ihrem merkwürdigen Gang vor ihnen herbewegte, halb ein froschähnliches Hüpfen und halb das geduckte Schleichen jemandes, der aus gutem Grund nicht entdeckt sein will. Sie trug in einer Hand den Bogen, in der anderen einen Pfeil mit breiter, gebördelter Spitze, speziell für den Einsatz gegen Kaktusleute, aber sie brauchte beides nicht zu benutzen. Yagharek, dicht hinter ihr, gab flüsternd Richtungsanweisungen. Ab und zu blieb sie stehen, drückte sich an eine Mauer, duckte sich hinter einen Karren, eine Bude und wartete, während eine tapfere oder leichtfertige Seele über ihnen den Vorhang am Fenster beiseite schob und durch einen Spalt auf die Straße hinauslugte.
Die fünf Affenkonstrukte hoppelten mechanisch neben ihren organischen Gefährten her. Ihre schweren Metallkörper bewegten sich weitgehend lautlos, bis auf einige wenige merkwürdige Geräusche. Isaac stellte sich vor, wie für die Kaktusleute die mittlerweile gewohnte Kost an Albträumen in dieser Nacht um ein unheimlich blechern schepperndes Wesen bereichert wurde, einen klappernden Unhold, der durch die Straßen wanderte.
Isaac fand den Aufenthalt in der Kuppel zutiefst beunruhigend. Trotz der teilweisen Verkleidung der Häuser mit roten Klinkern und der rußenden Fackeln wirkten die Straßen nicht wirklich fremd, man hätte sich überall in der Stadt befinden können. Wäre nicht, alles überwölbend, dominierend, in sich geschlossen wie ein klaustrophobischer Himmel, die gigantische Kuppel gewesen, die den Horizont definierte.
Lichter schienen von draußen herein, im dicken Glas wellig zerfließend, fremd und vage bedrohlich. Das schwarze Gittergerüst aus Eisen umwebte die Exklave wie ein ungeheures Spinnennetz.
Im Gefolge dieses Gedankens durchströmte Isaac ein seltsames Gefühl.
Er empfand eine schwindelnde Gewissheit.
Der Weber war in der Nähe.
Isaacs Schritte wurden langsamer, er hob den Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ihm die Welt als Gewebe von Schicksalsfäden vor Augen gestanden, hatte er einen Blick auf das Weltnetz erhascht und die Nähe der numinosen arachnoiden Wesenheit gespürt.
»Isaac!« Derkhan packte ihn im Vorbeilaufen am Ärmel und zog ihn mit. Er hatte still mitten auf der Straße gestanden und zum Himmel gestarrt, um noch einmal auf diese andere Ebene der Wahrnehmung zu finden. Während er hinter ihr herstolperte, wollte er ihr flüsternd erklären, was ihm widerfahren war. Aber er fand nicht die richtigen Worte, und sie hörte nicht zu, sondern zerrte ihn hinter sich her durch die verwinkelten Gassen.
Nach einem Marsch mit vielen Umwegen, Ausweichen vor Patrouillen und unbehaglichen Blicken zum düsteren Kristallfirmament, blieben sie vor einem Block unbeleuchteter Häuser stehen, an der Gabelung zweier verlassen daliegender Straßen. Yagharek wartete, bis alle zu ihm aufgeschlossen hatten, bevor er sich umdrehte und die Hand ausstreckte.
»Das Fenster da oben«, sagte er.
Die Abwärtskrümmung der Kuppel hatte den Gebäuden stufenförmig den Garaus gemacht, beraubte sie des Daches, des ersten, zweiten, dritten Stockwerks, bis von dem hintersten nur mehr die Grundmauern aus dem Boden ragten. Doch Yagharek wies auf das vordere Ende, wo die Häuser noch fast intakt waren.
Die drei Etagen unterhalb des Dachgeschosses waren bewohnt, Licht schimmerte durch
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