Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perdido Street Station 02 - Der Weber

Perdido Street Station 02 - Der Weber

Titel: Perdido Street Station 02 - Der Weber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
Vom Netzwerk:
auszulassen, schwangen sie die Waffen und stürmten weiter. Eben als Lemuel die Mauer erreichte, hörte man das harte, stählerne Schnarren eines Köpfers, dann einen dumpfen, knirschenden Schlag. Lemuel schrie und stürzte.
    Ein riesiges, gezähntes Tschakra steckte tief in seinem Rücken, in der Wirbelsäule, unmittelbar über dem Gesäß. Die silbernen Spitzen lugten aus der Wunde, aus der Blut in Strömen quoll.
    Lemuel hob den Blick zu Isaacs Gesicht und schrie herzzerreißend. Seine Beine zuckten. Er scharrte mit den Händen am Sockel der Mauer, Ziegelstaub rieselte auf ihn hinab.
    »O Jabber Isaac hilf mir hilf mir doch!«, brüllte er. »Meine Beine… O Jabber o Götter …« Er hustete einen großen Blutklumpen aus, der grässlich zäh über sein Kinn rollte.
    Isaac war starr vor Entsetzen. Er schaute zu Lemuel hinunter, in dessen vor Angst und Schmerzen weit aufgerissene, blanke Augen. Als er kurz den Blick hob, sah er die Kaktusleute jubelnd und johlend auf den gestürzten Mann zustürmen. Sie waren kaum noch zehn Meter entfernt. Einer entdeckte Isaac oben auf der Mauer, hob den Köpfer und legte bedächtig auf ihn an.
    Isaac duckte sich und rutschte halb in den kleinen Hof hinunter. Aus dem offenen Abwasserschacht stieg abscheulicher Fäkalgestank.
    Lemuel starrte ihn ungläubig an.
    »Lass mich nicht im Stich!«, schrie er gellend. »Jabber, verflucht, nein, o Jabber, nein … Geh nicht weg! Hilf mir!«
    Er trommelte mit den Fäusten auf den Boden, gegen die Steine, riss sich die Nägel ab bis ins rohe Fleisch, als er in seiner Todesangst die blutenden Finger in Ritzen und Fugen krallte, um sich und den Ballast der gelähmten Beine an der Mauer hinaufzuziehen, während die Kaktusleute ihn schon fast erreicht hatten.
    Isaac schaute ihm zu wie versteinert, wissend, dass er nichts, gar nichts tun konnte, dass die Zeit nicht reichte, um hinunterzusteigen und Lemuel hinaufzuhelfen, dass die Verletzung ihn umbringen würde, selbst wenn es Isaac gelang, ihn über die Mauer zu ziehen – und wissend, dass trotz alldem Lemuels letzter Gedanke, während er ihm ins Gesicht schaute, Isaacs Verrat galt.
    Von der anderen Seite der baufälligen Mauer hörte er Lemuels Schreie, als die Kaktusleute sich auf ihn stürzten.
    »Er hat nichts damit zu tun!«, brüllte er außer sich vor Trauer, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Pengefinchess, scheinbar unberührt, ließ sich in die Kloake hinab, die unten gärte. »Er hat überhaupt nichts damit zu tun!«, wiederholte Isaac, in der Hoffnung, die grässlichen Klagelaute möchten verstummen. Derkhan folgte der Vodyanoi, sie war kreideweiß im Gesicht, der Stumpf des abgetrennten Ohrs blutete. »Lasst ihn in Ruhe, ihr Schweine, ihr Arschlöcher, ihr dämlichen Kaktusbastarde!«, überschrie Isaac Lemuels überschnappendes Gebrüll. Yagharek, bereits bis zu den Schultern in der Öffnung verschwunden, packte Isaacs Knöchel und bedeutete ihm zu kommen, schnell. Zu aufgeregt für Worte, klappte er scharf mit dem Raubvogelschnabel, um ihn anzutreiben. »Er hat euch geholfen …«, brüllte Isaac mit vor erschöpftem Grauen heiserer Stimme.
    Yagharek war verschwunden. Isaac stemmte die Hände neben den Rand der Schachtöffnung und ließ sich hinunter. Er quetschte den umfänglichen Bauch durch die metallenen Lippen und zog den Deckel heran, um ihn über die Öffnung zu legen, sobald er weiter nach unten gestiegen war.
    Immer noch hörte man über die Mauer hinweg Lemuel in Todesnot schreien. Die brutalen Geräusche der verstörten, triumphierenden Kaktusleute, die an dem Eindringling ihre Wut und Angst abreagierten, nahmen und nahmen kein Ende.
    Es wird aufhören, dachte Isaac, während er Sprosse um Sprosse in die modrige Dunkelheit tauchte. Sie sind verängstigt und verwirrt, sie wissen nicht, was los ist. Jeden Moment werden sie aufhören, ein Ende machen. Sie haben keinen Grund, ihn am Leben zu halten, sagte er sich, sie werden ihn töten, weil sie glauben, er gehört zu den Faltern, sie werden tun, was sie für nötig halten, um ihr Heim zu schützen, sie werden ein Ende machen, sie sind in Panik, sie sind keine Sadisten, dachte er, sie wollen nur einen Feind vernichten … Sie werden jeden Augenblick ein Ende machen, dachte er verzagt. Sie werden aufhören.
    Doch Lemuels Schreie dauerten an, während Isaac in die Kloake hinunterstieg, und auch noch, als er die schwere Eisenplatte über seinen Kopf zog. Und selbst dann noch drangen sie dünn und blechern durch den Deckel,

Weitere Kostenlose Bücher