Perfekt
den Mathisons finden wirst.«
Achselzuckend versuchte Julie, sich gegen die unvermeidliche Enttäuschung zu wappnen, doch konnte sie den Hoffnungsschimmer, der in ihrem Herzen aufflammte, nicht völlig unterdrücken. »Darauf würde ich mich nicht verlassen, Dr. Wilmer«, sagte sie, während sie aufstand.
Die Ärztin lächelte. »Ich verlasse mich auf dich. Du bist ein außergewöhnlich intelligentes und sensibles Mädchen, das ganz bestimmt erkennt, wenn ein anderer es gut mit ihm meint.«
»Sie müssen wirklich gut sein in Ihrem Job«, seufzte Julie. »Sie haben es geschafft, daß ich fast alles glaube, was Sie erzählen.«
»Ich bin verdammt gut in meinem Job«, pflichtete Dr. Wilmer ihr bei. »Und daß du das erkannt hast, zeigt, wie intelligent du bist.« Lächelnd berührte sie Julies Kinn. »Wirst du mir ab und zu schreiben, wie es dir geht?«
»Klar«, antwortete das Mädchen, zuckte aber erneut mit den Schultern.
»Den Mathisons ist es egal, was du in der Vergangenheit getan hast. Sie vertrauen dir und glauben fest daran, daß du von jetzt an ehrlich bist. Hast du den Willen dazu, das Vergangene zu vergessen und ihnen eine Chance zu geben, dir zu verhelfen, ein wunderbarer Mensch zu werden?«
Das war einfach zuviel auf einmal. Julie kicherte verlegen. »Sicher. Klar doch.«
Um Julie die Wichtigkeit ihrer Zukunft nochmals vor Augen zu halten, fuhr Theresa sehr ernst fort: »Denk daran, Julie. Mary Mathison hat sich schon immer eine Tochter gewünscht, aber du bist das erste kleine Mädchen, das sie jemals eingeladen hat, bei ihr zu wohnen. Du hast jetzt also die Möglichkeit, noch mal ganz von vorne anzufangen. Du bist völlig unbescholten, genauso unschuldig wie ein neugeborenes Baby. Verstehst du?«
Julie öffnete den Mund, um die Frage zu bejahen, aber sie schien einen dicken Kloß im Hals zu haben. Deshalb nickte sie nur.
Theresa Wilmer schaute in die riesigen blauen Augen, die ihr aus dem lausbubenhaften Gesicht entgegenblickten, und auch sie konnte jetzt nicht mehr sprechen. So streckte die Ärztin nur die Hand aus und strich mit den Fingern durch Julies zerzauste braune Locken. »Vielleicht kannst du dich eines Tages auch dazu entschließen, dein Haar wachsen zu lassen«, murmelte sie lächelnd. »Es ist wunderschön glänzend und dicht.«
Endlich fand Julie ihre Stimme wieder, und sie runzelte sorgenvoll die Stirn. »Diese Dame - Mrs. Mathison, meine ich -, wird sie nicht versuchen, mir Schleifen oder Haarspangen oder etwas ähnlich Beklopptes ins Haar zu tun?«
»Nur wenn du es selber so tragen möchtest.«
Noch immer gerührt, blickte Theresa dem Mädchen nach, als es den Raum verließ. Das Kind hatte die Tür einen Spalt weit offenstehen lassen, und da Dr. Wilmer wußte, daß ihre Sprechstundenhilfe jetzt Mittag machte, wollte sie sie schließen. Sie griff nach der Türklinke und sah Julie nicht geradewegs zur Praxistür gehen, sondern zweimal einen kleinen Umweg machen. Ohne richtig stehenzubleiben, schlenderte sie wie zufällig erst an dem Beistelltisch beim Aquarium und dann am verlassenen Schreibtisch der Sekretärin vorbei.
Nachdem sie gegangen war, sah Theresa auf dem Beistelltisch eine große Handvoll Bonbons liegen und auf dem leeren Schreibtisch einen roten Buntstift und einen Kugelschreiber.
Dr. Wilmer empfand Freude und Stolz über das, was sie gerade beobachtet hatte. Und obwohl das Kind bereits gegangen war, flüsterte sie: »Du willst wirklich ganz neu anfangen, nicht wahr, Liebes? Ich bin richtig stolz auf dich!«
3
Der Schulbus hielt vor dem hübschen viktorianischen Haus, das Julie in den drei Monaten, die sie nun bei den Mathisons lebte, als ihr Zuhause angenommen hatte. »Wir sind da, Julie«, sagte der nette Busfahrer, doch als das Mädchen aus dem Bus stieg, wartete es vergeblich auf die herzlichen Good-byes ihrer neugewonnenen Freunde. Deren kaltes, mißtrauisches Schweigen verschlimmerte noch zusätzlich das Gefühl panischer Angst. Während das Kind auf den schneebedeckten Bürgersteig trat, verkrampfte sich sein Magen immer mehr. Denn in Julies Klasse war Geld gestohlen worden. Irgend jemand hatte den Betrag, den die Lehrerin für das tägliche Schulessen eingesammelt hatte, aus dem Pult entwendet. Alle Kinder ihrer Klasse waren über den Diebstahl befragt worden. Auch Julie, doch gegen sie sprach, daß sie an diesem Tag als einzige länger im Zimmer geblieben war, weil sie ihre Erdkundearbeit fertigmachen wollte. Sie war die Hauptverdächtige, weil sie
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