Perfekt
Polizei zu sagen, daß du nicht genau weißt, wo dieses Haus liegt. Sag ihnen, daß ich dir die Augen verbunden habe, nachdem wir den Rastplatz verlassen haben, und daß du den Rest der Fahrt auf dem Rücksitz liegen mußtest, damit du nicht wieder versuchen würdest, davonzulaufen. Das klingt glaubwürdig und logisch, und sie werden es ohne weiteres schlucken. Auf die Art und Weise wird auch die Aussage dieses verdammten Fernfahrers neutralisiert - und die ist der einzige Grund, weshalb die Polizei annehmen könnte, daß du mir bei meiner Flucht geholfen hast. Ich würde alles tun, um dich nicht darum bitten zu müssen, für mich zu lügen, aber so ist es wirklich am besten.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Sein Gesicht wurde abrupt hart und verschlossen, und er wirkte wachsam. »Das ist natürlich ganz allein deine Entscheidung«, sagte er mit eisiger Höflichkeit in der Stimme. Erst in diesem Moment, in dem sie die Veränderung bemerkte, die der Gedanke in ihm auslöste, daß sie sein Vertrauen mißbraucht haben könnte, wurde Julie richtig klar, wie sehr er sich ihr gegenüber seit gestern geöffnet hatte. Seine nonchalanten Neckereien und sein zärtliches Liebesspiel waren offenbar doch nicht nur eine bequeme und angenehme Art des Zeitvertreibs gewesen - zumindest ein Teil davon war also wirklich aufrichtig. Diese Entdeckung war so wunderbar, daß sie kaum zuhörte, was er weiter sagte: »Wenn du dich entschließt, der Polizei zu erzählen, wo dieses Haus liegt, wäre es nur anständig, wenn du dich auch daran erinnern würdest, daß ich keinen Schlüssel hatte und eingebrochen wäre, wenn ich keinen gefunden hätte. Tust du das nicht, setzt du die Leute, denen dieses Haus gehört und die an meinen ursprünglichen Fluchtplänen genauso unbeteiligt sind wie du, denselben ungerechtfertigten Verdächtigungen aus, wie du sie der Aussage des Fernfahrers zu verdanken hast.«
Es ging ihm nicht darum, sich selbst zu schützen, das war ihr jetzt klar. Er war nur verzweifelt darum bemüht, die Besitzer dieses Hauses zu schützen. Was bedeutete, daß er sie kannte. Sie waren Freunde von ihm, oder waren es wenigstens früher einmal gewesen ...
»Würdest du so freundlich sein, mir deine Entscheidung mitzuteilen?« fragte er in dem kühlen, distanzierten Ton, den sie so sehr haßte. »Oder möchtest du noch eine Weile darüber nachdenken?«
Als sie elf Jahre alt gewesen war, hatte Julie das Gelübde abgelegt, nie wieder zu lügen, und fünfzehn Jahre lang hatte sie sich an dieses Versprechen gehalten. Jetzt sah sie den Mann an, den sie liebte, und sagte sanft: »Ich werde berichten, daß du mir die Augen verbunden hast. Wie konntest du nur annehmen, daß ich etwas anderes sagen würde?«
Erleichtert bemerkte sie, wie die Spannung aus seinem Gesicht wich, doch anstatt etwas Nettes zu sagen, blickte er sie nur vernichtend an und verkündete: »Eines muß man dir lassen, Julie, du bist die einzige Frau, die es jemals geschafft hat, mir das Gefühl zu geben, sie könne mit meinen Emotionen regelrecht Jojo spielen und mich um den berühmten Finger wickeln.«
Julie biß sich auf die Unterlippe, um ein Lächeln zu verkneifen, denn es schien ihr sehr bedeutungsvoll, daß sie eine Macht über ihn besaß wie keine Frau vor ihr. Und daß ihm die Art, wie sie damit umging, nicht gefiel, war eher nebensächlich. »Es ... es tut mir leid«, log sie lahm.
»Den Teufel tut es«, erwiderte er, doch die Schärfe war aus seiner Stimme gewichen, und an ihrer Stelle begann leises Amüsement durchzuklingen. »Ich sehe doch, daß du dich verdammt anstrengen mußt, um nicht loszulachen.«
Sie verschluckte ein Kichern, hob den Zeigefinger, drehte ihn hin und her und musterte ihn mit großer Sorgfalt. »Ich finde, er sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Finger«, zog sie ihn auf.
»Nichts an Ihnen ist gewöhnlich, Miß Mathison«, sagte er mit derselben Mischung aus Irritiertheit und Amüsement. »Der liebe Gott möge dem Mann beistehen, der dich heiratet, denn der arme Kerl wird bestimmt lange vor seiner Zeit alt und grau werden!«
Seine offensichtliche Überzeugung, daß sie letztlich mit einem anderen Mann zusammen sein würde - den er obendrein auch noch bedauerte -, trübte Julies Fröhlichkeit beträchtlich und brachte sie schnell wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Erneut gelobte sie sich, alles möglichst leicht zu nehmen und nie wieder mehr aus seinen Worten oder Handlungen herauszulesen, als tatsächlich dahintersteckte.
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