Perfekt
gleichmäßig.«
»Das ist nicht weiter verwunderlich«, erwiderte sie und lächelte ihn über die Schulter an, »weil ich nämlich Jahre damit verbracht habe, daran zu arbeiten. In der Zeit, in der andere dreizehnjährige Mädchen im Kino saßen und dich in deinen frühen Filmen anhimmelten, habe ich zu Hause gesessen und mich bemüht, ordentlich zu schreiben.«
Zack fragte überrascht: »Aber wieso?«
Julie drehte sich langsam auf dem Stuhl um und blickte ihn an. »Weil ich«, sagte sie, »bis zu meinem zwölften Lebensjahr ein völliger Analphabet war. Ich konnte nur ganz wenige Wörter lesen und nichts schreiben als meinen Namen, und auch den nur unleserlich.«
»Warst du eine Legasthenikerin oder so etwas ähnliches?«
»Nein, ich hatte nur einfach nie lesen und schreiben gelernt. Als ich dir von meiner Kindheit erzählte, habe ich diesen Teil ausgelassen.«
»Absichtlich?« fragte Zack, als sie aufstand und um die Theke herumging, um sich ein Glas Wasser zu holen.
»Vielleicht war es Absicht, obwohl ich es dir nicht bewußt verschweigen wollte. Komisch, nicht wahr, daß es mir ganz leicht gefallen ist, dir zu erzählen, daß ich geklaut habe, daß ich es aber nicht fertigbrachte, einzugestehen, daß ich weder lesen noch schreiben konnte?«
»Ich verstehe nur nicht, wie das jemandem passieren konnte, der so intelligent ist wie du.«
Sie warf ihm einen derart spöttisch-überheblichen Blick zu, daß er sie am liebsten in seine Arme gezogen und ihr den Spott von den Lippen geküßt hätte. »Zu Ihrer Information, Mr. Benedict: Das ist etwas, was jedem passieren kann, und Intelligenz hat nicht das mindeste damit zu tun. Jede fünfte Frau in den Vereinigten Staaten ist praktisch Analphabetin. Das passiert nämlich ganz schnell, wenn man in den ersten Schuljahren Unterrichtsstunden verpaßt - weil viele Mädchen daheim den Haushalt führen und sich um kleinere Geschwister kümmern müssen, oder weil die Familien keinen festen Wohnsitz haben und durch das Land ziehen; oder aus einem Dutzend anderer Gründe. Und wenn sie erst einmal den Anschluß verpaßt haben, fangen sie an, sich für dumm zu halten und probieren es gar nicht erst weiter. Sie geben einfach auf. Ganz egal, aus welchem Grund sie Analphabeten geblieben sind, das Ergebnis ist immer dasselbe: Sie sind ihr Leben lang auf Hilfsarbeiterjobs und auf die Sozialhilfe angewiesen, oder sie bleiben bei Männern, die sie mißhandeln und ausnutzen - nur weil sie sich nicht zu helfen wissen, sich selber für minderwertig halten und glauben, nichts Besseres zu verdienen. Niemand, der es nicht selber durchgemacht hat, kann sich vorstellen, was für ein Gefühl es ist, in einer Welt zu leben, die vor Informationen überquillt, die einem selbst aber nicht zugänglich sind. Aber ich erinnere mich noch ganz genau daran. Die einfachsten Dinge, zum Beispiel den Weg zu einem bestimmten Büro zu finden, sind so gut wie unmöglich. Man lebt in beständiger Angst und Scham. Die Scham ist fast unerträglich, und deshalb bemühen sich diese Frauen auch, ihren Makel zu verbergen.«
»Hast du dich geschämt, obwohl du damals noch so klein warst?« fragte Zack, zutiefst erschüttert über diesen neuen Einblick in ihr Leben, den sie ihm gewährt hatte.
Sie nickte, nahm noch einen großen Schluck Wasser und stellte dann das Glas weg. »In der Schule wollte ich immer in der ersten Reihe sitzen, damit ich nicht die Gesichter der anderen Kinder sehen mußte, wenn sie mich auslachten. Ich konnte ihnen weismachen, daß ich kurzsichtig wäre.«
Zack wußte kaum, wie er all der Gefühle Herr werden sollte, die in ihm aufkamen, als er sich vorzustellen versuchte, wie sie als kleines Mädchen ihr Leben verbracht hatte - in den schmutzigen Straßen einer anonymen Großstadt, in der es niemanden kümmerte, was aus ihr wurde. Schließlich räusperte er sich. »Du sagst, daß mangelnde Schulbildung der auslösende Faktor war. Warum hat man dich denn nicht zur Schule geschickt?«
»Ich war als Kind oft krank und habe deshalb von der ersten und zweiten Klasse nicht viel mitbekommen. Aber die Lehrer mochten mich und haben mich deshalb trotzdem immer in die nächste Klasse versetzt. Das ist im Grunde das Schlimmste, was Lehrer tun können, aber es kommt immer wieder vor, ganz besonders bei »lieben kleinen Mädchen<. Als ich dann in der dritten Klasse war, wurde mir klar, daß ich nicht mitkommen würde, deshalb fing ich damals an, den Unterricht zu schwänzen und mit Straßenkindern
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