Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
sammelten sie sich im gebührenden Abstand von den anderen.
Der Wind stob durch die Lichtung, eine Haube flog über den Platz, aber niemand machte Anstalten, sie einzufangen.
»Seht nur, das Ende ist nah«, begann der Prediger laut in einem Singsang, während er die Arme gen Himmel reckte. »Das LandKanaan sei euch verheißen, in dem auch ihr euren Anteil erhaltet, denn dort wird euch am Ende der Zeiten euer Recht zurückgegeben.«
Ein zustimmendes Raunen erhob sich.
»Der reiche Klerus aber missachtet die Gesetze Gottes, badet in selbstgefälligem Reichtum und lässt die Armen vor seinen Augen verhungern.«
»Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden.« Die Worte erklangen in vielfältigem Gemurmel.
Der Prediger fuhr fort. »Also gewöhne dich an die Armut, denn nur wer den Reichtum verachtet, erlangt göttliche Würde.«
»Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.«
Clemens betrachtete die versunkenen Gesichter. Die Schergen haben ihre Aufgabe erkannt, dachte er voller Bitterkeit, und nun soll ich für die Zwecke des Predigers zum Scheiterhaufen geführt werden.
»Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden!« Clemens’ Stimme klang tief und voll über den Platz. Irritiert blickten die Menschen auf.
»Seid barmherzig, denn ich bin in göttlicher Mission unterwegs«, fuhr er fort. »Und wenn ihr mich an der Ausführung hindert, so ist das Himmelreich für immer verloren! Das Böse geht um, es verbreitet sich mit der Geschwindigkeit des Windes. Wir müssen ihm Einhalt gebieten, ehe es uns alle vernichtet.«
Clemens erkannte Erstaunen auf den Gesichtern, auf manchen sogar Entsetzen.
»Ruhig«, versuchte Werner von Kastellaun die Menschen zu beschwichtigen, »er redet im Gewand des Herrn, doch mit der Zunge des Teufels.«
»Ja, schneidet ihm die Zunge raus«, rief ein jüngerer Mann. ZustimmendesGeschrei erklang. »Werft ihn ins Feuer und überlasst ihn dem Schlund der Hölle!«
»Haltet ein, ihr benehmt euch wie die Tiere!« Es war die junge Aussätzige, die sich unbemerkt genähert hatte und vor der nun die Menschen voller Furcht und Ekel wichen. »Lasst ihn erzählen.«
Clemens von Hagen blickte dankbar in das von Geschwüren entstellte Gesicht. Dann wandte er sich an die Umstehenden. »Helft mir auf, damit ich euch berichten kann.«
Die Menge zauderte. Mit aller Kraft versuchte Clemens, sich hochzustemmen, doch sein von einem Keulenhieb verletztes Bein schmerzte noch immer, und er sank wieder zu Boden.
»Gottes Strafe richtet ihn!«, rief Werner aus. »Seht doch, wie er strauchelt!«
»Ich bin gestrauchelt, weil mich eine menschliche Keule traf, nicht Gottes Zorn«, antwortete Clemens und blickte die Menschen um ihn beschwörend an.
Er sah Männer und Frauen in Lumpen, manche zahnlos und mit filzigem Haar, auch schmutzige Kinder mit dürren Bäuchen. Dort drüben seine beiden Peiniger, barbarisch grinsend, als diente sein Leid nur ihrer Belustigung.
Hier standen Menschen, die auf Almosen hofften und sie in Demut empfingen, aber vor allem standen hier solche, die Gottes Botschaft missachteten, die Trägheit liebten und sich weder körperlich noch geistig bemühten, um ihrer Seele zu helfen. Bettler, ausgeschlossen und rechtlos, fern von der eigenen Barmherzigkeit.
Clemens spürte, dass seine Möglichkeiten gering waren, doch er musste sie nutzen, und das gelang nur, wenn er ihr Dasein nicht in Frage stellte.
»Ich verachte euer Evangelium nicht. In diesem Punkt irrt euer Prediger, denn die Mutter Kirche ist barmherzig. Ihr mögtGeistliche kennen, die sich ihres Standes nicht würdig erwiesen haben, ja, manche von euch haben wohl auch unter ihnen gelitten. Voller Hoffnung wendet ihr euch nun einem neuen Glauben zu, in der Annahme, dort der Verheißung göttlicher Gerechtigkeit nahe zu sein. Doch es ist nicht der kirchliche Glaube, der euch vom himmlischen Vater trennt, es ist der ewige Kampf von Gut und Böse, dem ihr euch auch hier stellen müsst. Ich achte euer Verlangen nach Armut, denn ich bin sicher, es entspringt dem Wunsch, es Gottes Sohn gleichzutun. Und ebenso sicher vertraue ich darauf, dass ihr seine Gebote ehrt, von denen eines heißt: Du sollst nicht töten.«
Werner von Kastellaun sah beunruhigt in die Reihen, Menschen, die eine direkte Ansprache nicht gewohnt waren, sondern nur Gegenwehr und Ablehnung, nickten zögernd angesichts des Verständnisses, das sie soeben auf unerwartete Weise erhielten.
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