Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Einer der älteren Männer, sein Wollhemd zerschlissen, das rechte Beinkleid durchsetzt von Eiter und Blut, trat einen Schritt nach vorn. »So helft ihm doch auf. Lasst uns hören, was er zu sagen hat.«
Zu Clemens’ Erleichterung kam Bewegung in die Umstehenden. Ein Mann entfernte den Ast, der noch immer zwischen seinen zurückgebundenen Armen steckte, ein anderer half ihm auf die Beine. Nun überragte er den Prediger um Haupteslänge.
»Ich reise in Gedenken an die selige Rupertsberger Äbtissin Hildegard von Bingen, dem Sprachrohr Gottes. Nur wenn ihr mich ziehen lasst, kann ich ihren Auftrag vollenden, dessen Ausführung in größter Gefahr ist.«
»Hildegard von Bingen war eine hochmütige Person«, erklärte Werner von Kastellaun, »nicht besser als der gesamte Klerus. Man sagt, die Visionen hätten Luftgeister ihr eingeflüstert, um die Menschen mit dem Geschwätz eines Weibes zu täuschen.«
Clemens war erbost, doch er musste seine aufsteigende Wut imZaum halten, sonst war alles verloren. »Die Botschaften kamen von Gott. Selbst Papst Eugen hatte das erkannt und Hildegard ermuntert, mit der Niederschrift der Visionen fortzufahren«, antwortete er äußerlich ruhig. »Auch die Prophetin hat gegen die Selbstgefälligkeit und den satten Reichtum des Klerus gepredigt und ihn an seine göttliche Berufung erinnert.«
»Doch predigte sie auch gegen die Katharer, die Armut, Keuschheit und Enthaltsamkeit lieben. Wegen ihres Aufrufs gegen diese Leute sind in Köln Menschen dem weltlichen Gericht übergeben und verbrannt worden«, warf Werner von Kastellaun ein.
»Die Katharer sind Heuchler, ihre Frömmigkeit ist haltlos, denn sie frönen der Wollust, wenn niemand ihnen zusieht. Man kann den sündigen Körper nicht von einer reinen Seele trennen, das ist Dualismus, und das widerspricht Gottes Gesetz. Hildegard rief lediglich zur Vertreibung auf, um die Kirche und damit Gottes Werk zu schützen, nicht aber zur Verbrennung.«
»Nein, ich sage Euch, wie es wirklich ist: Eure Hildegard selbst ist eine Heuchlerin, denn sie predigte öffentlich, obwohl der Apostel Paulus es verbot. Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen, denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Vor allem soll sie in der Versammlung schweigen, es gehört sich nicht für eine Frau, vor der Gemeinde zu reden!« Der Wanderprediger hatte seine Sicherheit zurückgewonnen. Sollte Clemens ihn kurzzeitig irritiert haben, so war nun nichts mehr davon zu spüren.
»Hildegard sprach im Auftrag des höchsten Herrn, der über den Aposteln steht!«, rief Clemens gegen den immer lauter werdenden Wind an. »Und wie steht es bei Euch?«, fügte er hinzu. »Wie könnt Ihr predigen, wenn der Auftrag dazu doch ausschließlich vom Bischof zu erfolgen hat?«
»Wollt Ihr sagen, ich sei ein Ketzer?«, fragte Werner von Kastellaun erbost.
»Zum Ketzer wird man durch Irrtum und Streitsucht, wenn man seinen Irrtum hartnäckig verficht und die Worte oder Schriften der Weisen missachtet.«
Inzwischen hatte der Sturm an Kraft gewonnen. Äste flogen herum, die kleinen Feuerstellen loderten und rissen Funken mit sich. Ganz in der Nähe der Gruppe stürzte ein Baum. Die Menschen schrien und stoben auseinander, manche zum dunklen Waldrand hin, wo sie sich ins Gebüsch kauerten und die Hände über den Kopf hielten. Andere rannten ziellos umher, dem Funkenflug folgend, der nun ein Bündel Reisig erfasste und es entzündete.
Werner von Kastellaun bemühte sich vergebens, seine Anhänger zu beruhigen. Hilflos versuchte er ein kleines Mädchen abzuschütteln, das ihn umklammert hielt und mit vor Angst verzerrtem Gesicht nach der Mutter rief.
Clemens von Hagen sah sich unbeobachtet. Mit wenigen Sätzen rannte er auf die Stelle zu, an der er sein Pferd entdeckt hatte, wuchtete sich auf dessen Rücken, während er versuchte, seine engen Armfesseln abzustreifen. Als er bemerkte, dass auch sein Pferd angebunden war, sah er bereits den Prediger auf sich zustürzen.
»Haltet ihn!«, rief Werner von Kastellaun mit sich überschlagender Stimme, doch zu leise, um das Geschrei zu übertönen, das die Lichtung erfüllte. »Haltet ihn auf!«
Die junge Aussätzige sprang hinzu, und gerade, als Clemens glaubte, alles sei verloren, sah er einen scharfen Stein in ihren Händen, mit dem sie begann, das Seil zu lösen, das sein Pferd zurückhielt.
»Geht mit Gott«, rief sie ihm zu.
»Was wird aus Euch?«
»Seid unbesorgt – was kann mir schon noch
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