Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
geschwärzten Holz der Truhe schien der Raum unversehrt.
Sollte Elysa mit ihrer Vermutung recht gehabt haben, dass jemand von diesem Raum aus das Feuer entzündet hatte, so musste er zuvor das kostbare Glas eingeschlagen haben. Das klirrende Geräusch wäre schwer zu überhören gewesen. Es schien Elysa undenkbar, dass ausgerechnet die blinde Ida das vollbracht haben sollte, um dann ohne Furcht vor Entdeckung noch eine Fackel zu entzünden und aus dem Fenster zu werfen. Nein, es musste eine andere Erklärung geben.
Elysa näherte sich dem offenen Fenster. Es führte zum Kreuzgang hinaus. Der Hagel fiel unvermindert herab. Körner groß wie Kiesel, die den Kreuzgarten vollständig bedeckten.
Keiner der Arbeiter war zu sehen, und auch die Nonnen hatten sich zur Prim in der Kirche versammelt. Elysa lehnte sich hinaus.Nun konnte sie den Weg des Hagels verfolgen, der durch das offene Dach des Seitenschiffes stürzte und den steinernen Boden des Kirchensaals unter einer dicken weißen Schicht begrub.
Dann zog sie ihren Kopf wieder zurück, kniete sich vor die Truhe – offenbar das Archiv – und versuchte, sie zu öffnen. Doch sie war mit einem schweren Schloss versehen, das auch ihrem Rütteln nicht nachgab. Elysa stand auf und ging nach einem kurzen Blick auf die Wendeltreppe zu dem großen Bücherschrank an der Stirnseite des Raumes. Er trug wenige, doch sorgsam aneinandergereihte Bände, einfach gebundene wie auch solche, die zwischen pergamentbezogenen Holzbrettern befestigt waren.
Elysa strich über die dicke Staubschicht und nahm eine Handschrift heraus, die Vita des heiligen Rupertus. Die Handschrift war klamm und mit gewellten Seiten, wegen der Feuchtigkeit, die durch das offene Fenster in das Pergament gedrungen war.
Es gab vorwiegend liturgische Schriften, Evangeliare, Psalter und Apokalypsen. Dazu weitere Heiligenviten, Schriften der Kirchenväter Ambrosius, Augustinus und Hieronymus und Werke von Cicero und Aldhelm von Sherborne, wohl als Schullektüre gedacht. Einfach beschrieben, ohne jegliche Miniatur. Ebenso fand sie eine Handschrift vom Kloster St. Eucharius in Trier des ersten Buches von ΠΕΡΙ Φ YCΩCMEPICMOY von Johannes Scottus und eine metrische Bearbeitung Depressus usquequaque Omnis pondere noxae , in der griechische Worte vorkamen, die teils in griechischen Majuskeln, teils in Minuskeln geschrieben waren.
Oberhalb der Augenhöhe reihten sich Werke der seligen Hildegard. Der Liber divinorum operum und Liber vitae meritorum , dazu einige Musikstücke und ein Singspiel.
Indessen gab es keine illuminierten Enzyklopädien, kein Traktat über die Astronomie, keine Bücher, die über die übrigen artes liberales hinaus Wissen darbrachten und den Ruf der Klöster alsZentren der Bildung und Erziehung rechtfertigten. Nur das von Margarete kopierte Werk De Medicina des Isidor von Sevilla, das allerorts zum Repertoire einer guten Bibliothek gehörte, und – zu Elysas Erstaunen – Summa gloria von Honorius, eine Streitschrift zum Rangverhältnis zwischen königlicher und päpstlicher Regierungsgewalt. Und wo war das Buch, das Jutta als Grundlage ihrer Künste diente? Befanden sich in ihm die Belehrungen zur geheimen Sprache?
Elysa trat einen Schritt zurück und betrachtete den Schrank. Etwas hatte sie bei der Durchsicht der Schriften irritiert, doch sie vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern, was es gewesen war.
Ihre Gedanken wurden von einem Geräusch unterbrochen, das sie herumwirbeln ließ. Aber es kam nicht von der Treppe, es drang durch das zum Klosterhof hinausgehende Fenster.
Rasch lief Elysa dorthin und spähte durch das gräulich-milchige Glas. Die Prim war beendet. Radulf von Braunshorn schritt mit wehender Kasel auf den Platz vor dem großen Westportal, gefolgt von Humbert von Ulmen. Der Seelsorger erschien blass neben der erhabenen Gestalt des Exorzisten, er hatte sein Haupt zwischen die Schultern gezogen und stakte mit kleinen Schritten durch die spitzen Körner am Boden.
Die Nonnen indessen sammelten sich im Schutze des Tympanons, um nicht vom Hagel erfasst zu werden, ebenso die Priorin. Nur Ida wagte sich ein paar Schritte vor bis auf die Stufen, mit hoch erhobenem Kopf, als wolle sie allen Urgewalten trotzen.
Dann streckte der Gesandte des Erzbischofs die Hände vor und malte ein Kreuz gegen die Wolken in die Luft. Der Hagel schlug ihm ins Gesicht, doch sein Antlitz verriet keinen Schmerz. Den Blick zum Himmel gewandt, begann er zu beten. Das Geräusch prasselnden Hagels
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