Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
sie nach Margaretes Rocktasche, dann nach dem Saum des Gewandes. Trug Margarete das Pergament bei sich? Mit bangem Herzenbefühlte sie die Vorderseite, den Blick bei Jutta, die noch immer ihrer Arbeit nachging. Margaretes Gebinde war gelockert, ein Verband umschlang den Kopf, doch auch unter der Haube konnte Elysa nichts ertasten. Das Pergament war nicht da.
Seufzend betrachtete sie Margaretes blasses Gesicht, ihr Atem flach, fast vollständig verhaucht. Margarete, liebe Margarete, was ist nur mit dir geschehen? dachte Elysa.
Wie gerne hätte Elysa an eine Schwäche geglaubt, die Margarete unglücklich stürzen ließ. Doch es war unzweifelhaft eine menschliche Hand, welche die Nonne niedergestreckt hatte.
Zu jener Zeit aber, als man Margarete gefunden hatte, waren alle im Kapitelsaal versammelt gewesen, und auch während der Laudes, als die Nonne bereits fehlte, waren alle da gewesen, mit andächtig geneigten Köpfen und ergriffenen Stimmen.
Nein, nicht alle. Priorin Agnes war wie immer als Letzte zur Messe erschienen und hatte erhobenen Hauptes ihren Platz im Gestühl eingenommen, Radulf von Braunshorn war dort noch nicht zugegen gewesen. Und auch die Handwerker hatten erst mit ihrer Arbeit begonnen, als das Morgenlob vorüber war. Und was war mit den Laienschwestern und Laienbrüdern, mit Bruder Gregorius?
Elysa begriff, dass sie niemandem trauen konnte. Wer immer Margarete nach dem Leben trachtete, würde sehr bald erfahren, dass der Herr in Erwägung zog, ihr einen Aufschub zu gewähren.
3
U nvermutet brach der Weg durch tief hängende Tannen und mündete direkt auf der alten Römerstraße.
Die Straße hatte den Weg nicht unmittelbar hinter der Biegung unweit der ungastlichen Hütte gekreuzt, wie Gerold von Mettlach behauptet hatte. Clemens hatte sich bereits gefragt, ob er einer Finte aufgesessen war. Dann jedoch waren ihm das Lärmen der Wagen, das Klappern von Hufen und das Rufen der Treiber verheißungsvoll an die Ohren gedrungen. Nun war er angekommen, hatte den Wald mit all seinen Gefahren hinter sich gelassen.
Die Straße war in schlechtem Zustand. Der Sturm der vergangenen Tage hatte Äste und Zweige herabgerissen und Bäume entwurzelt. An vielen Stellen war der Weg aufgebrochen, aus Rissen quoll Kies und Sand.
Ein Stück unterhalb der Straße lag der Rhein, vordem träge, nun jedoch mit reger Strömung, und begleitete die Straße als breites, dunkles Band.
Das nasse Kopfsteinpflaster glänzte. Ein vorbeifahrendes Fuhrwerk schlingerte gefährlich, als die vorgespannten Ochsen den Tritt verloren, doch sie fingen sich wieder und kamen schnaubend zum Stehen. Zwei Spielmänner in auffallend bunter, wenn auch von Nässe matt gewordener Kleidung, der eine bemüht, eine Fiedel unter seinem Gewand zu verbergen, eilten an Clemens vorbeiRichtung Mainz. Ein Viehtreiber mit tief ins Gesicht gezogenem Hut drängte eine Herde Rinder mit einem Stock und lauten Rufen in die entgegengesetzte Richtung.
Darüber hinaus war die Straße menschenleer.
Das Ross unter Clemens tänzelte, es war ein starkes, kräftiges Tier, das zu laufen begehrte. Gewiss gut für die Schlacht, jedoch gefährlich auf glattem, verunreinigtem Pflaster. Clemens drehte sich zurück zur Wegbiegung, es war ihm niemand gefolgt, dann führte er das Tier mit straff gespannten Zügeln nach rechts, Richtung Oppenheim. Der Regen war inzwischen in Hagel übergegangen, schlug mit immer größer werdenden Körnern auf die glatte Fahrbahn.
Der Hagel nimmt seinen Ausgang in der fünften Schicht, die höllenartig ist und dunkel, dachte Clemens mit prüfendem Blick in den Himmel. Doch die zweite Luftschicht schien ihre Spannkraft zu bewahren und hinderte die Fluten des Himmels, herabzufallen und Mensch und Tier hinwegzuschwemmen.
Mit gesenktem Kopf ritt er langsam voran, an Ackerflächen und Weinbergen vorbei. Der Hagel peitschte ihm hart entgegen, er dachte an die Männer, denen er nur knapp entkommen war, an Gerold von Mettlach und an seinen treuen Gaul, dessen Blut nun die Erde färbte. Würden sie ihn verfolgen, sobald sie die anderen Pferde eingefangen hatten? Wieder drehte der Kanonikus sich um, doch die Straße hinter ihm war leer.
Ein Pilger kam ihm entgegen, mit dünner Kutte und rotgeädertem Gesicht, sich schwerfällig auf seinen Stab stützend. Unbewegten Ausdruckes schritt er voran, als fühle er nicht Kälte und Nässe, die seine Kleidung durchdrangen. Clemens zügelte das Pferd und beugte sich zu dem Mann. »Sind Euch auf dem Weg
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