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Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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Schönheit der Glieder ergötzt. Das ist die größte Torheit.
    Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn, als könne er diese unerwünschten und wenig erbaulichen Gedanken mit einer Bewegung vertreiben, und wandte den Blick dem Verlauf des Flusses folgend gen Westen. Dort hinten, nicht mehr weit entfernt, lag die Mündung der Nahe und damit sein Ziel: das Kloster Rupertsberg. Er würde es noch heute erreichen, selbst wenn sich das Glück gegen ihn wandte und der Schlamm ihm den Weg versperrte. Doch zunächst musste er sich stärken und seinem Pferd eine Rast zugestehen.
    Während Clemens den Beutel öffnete, in dem er seinen Proviant verwahrte, gedachte er Gottfrieds, seines Stiftsbruders, der ihn zum schlafenden Laienbruder Gregorius geführt und des Nachts geholfen hatte, einen neuen Brief aufzusetzen. Nie hätte Clemens gedacht, dass er einst Botschaften der erzbischöflichen Kanzlei fälschen würde, und bei Gott, er würde es auch niemals wieder tun, wenn die Sache ausgestanden war. Doch was nützte das Beharren auf Tugenden, wenn man sich hier nur mit List helfen konnte? Selbst vom heiligen Bernhard von Clairvaux munkelte man, dass er vor seinem Tod am Text der Briefdokumente geschliffen hatte, um der Nachwelt das Bild eines Heiligen zu hinterlassen. Von seinem Großonkel Heinrich wusste Clemens,dass Hildegard von Bingen es ihm gleichgetan hatte. Sie ließ nachträglich Schriftwechsel hinzufügen und missverständliche Briefe gefälliger machen, um ein zitierfähiges Gesamtwerk zu schaffen, welches das Bild der von Gott berufenen Prophetin und Mahnerin abrundete.
    In den Klöstern schrieb man Heiligenviten dem Zeitgeist entsprechend um, Kompilatoren schrieben Bücher ab und versahen sie mit neuen Zusätzen. Und auch Kaiser Barbarossa verlegte sich einst beim Konzil von Pavia auf eine besonders abscheuliche Fälschung, als er eigenmächtig Victor IV. zum Papst ernannte und den Beschluss mit der Unterschrift von abwesenden Kirchenfürsten versah.
    Was war er, Kanonikus von St. Stephan zu Mainz, Staubkorn der Geschichte, dass er sich vorwerfen musste, einen Brief zu fälschen, der ein weiteres Unglück verhinderte? Nein, denn Gott hatte ihn zur rechten Zeit ins Stift geleitet und seine Feder geführt, als er verhinderte, dass der Laie mit einer Botschaft nach Eibingen zurückkehrte, die Elysa in Bedrängnis und die Mission zum Scheitern gebracht hätte. Und wer wollte es ihm verübeln, dass er Radulf von Braunshorn nicht in die Finger spielte? Jenem machthungrigen Exorzisten, der imstande war, den Mainzer Prälaten zu ihrer verspäteten Rache zu verhelfen, indem er Hildegards Vermächtnis mit Füßen trat.
    Clemens setzte sich auf einen Baumstamm und entnahm dem Proviantbeutel ein Stück Brot. Es war weich und saftig, und er aß es mit großem Appetit, dann gab er seinem Pferd einen Kanten. Erneut griff er in den Beutel, verzehrte Wurst und Dörrobst und blickte über fruchtbare Ackerlandschaften, Weinberge, Wiesen und Wälder. Im Sommer blühten hier Johanniskraut, Kuhschelle und Diptam, Mehlbeere und Hartriegel, eine Landschaft voller warmer Üppigkeit.
    Hildegard von Bingen hatte sich als wahrhaftige Naturforscherinerwiesen, als sie in ihrer Schrift über die Feinheiten der Natur von Pflanzen und Bäumen, von Fischen und Vögeln schrieb, viele davon aus dem Rheingau.
    Der Diptam ist warm und trocken, und er hat die Kräfte des Feuers und die des Steins in sich. Der Mensch, in dessen Körper Steine zu wachsen beginnen, der lege das Diptampulver in Essig, der mit Honig vermischt ist, er trinke dies oft nüchtern, und der Stein in ihm wird zerbrochen. Aber auch, wer im Herzen Schmerzen hat, esse das aus Diptam gemachte Pulver, und der Herzschmerz wird weichen.
    Ob es auch jenen Herzschmerz zu heilen vermochte, der ihn indes unerwartet ereilt hatte? Clemens seufzte.
    Im Westen leuchtete ein Blitz. Die Wolken ballten sich zusammen, schon grollte der Donner. Bald würde Regen die Wege zu kleinen Bächen machen, unpassierbar, selbst zu Fuß. Clemens stand auf und nahm sein Pferd am Zügel. Er musste weiter.

10
    D er entsetzliche Zwischenfall hatte den Tagesablauf des Konvents zutiefst erschüttert. Die Priorin bemühte sich, die gewohnte Ordnung wiederherzustellen, doch es wollte ihr nicht gelingen.
    Noch während der Terz waren die Nonnen von lauten Männerstimmen und dem Klappern von Hufen aufgeschreckt worden. Später, als sie auf den Klosterhof strömten, erfuhren sie, dass die Handwerker aufgebrochen waren

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