Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
– hastig und ohne sich bei der Priorin abzumelden.
Nur wenigen Schwestern gelang es, ihre Haltung zu bewahren, als sie sich zum Mittagsmahl ins Refektorium begaben.
Manche verharrten vor ihren Plätzen, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben, sie mussten wieder fortgeschickt werden, um das nachzuholen. Andere wiederum setzten sich, ohne auf das Zeichen der Priorin zu warten.
Endlich standen alle mit sauberen Händen und mit zum Haupttisch der Oberin geneigtem Kopf. Nun verneigte sich auch Agnes, läutete die Tischglocke und sprach ein kurzes Gebet. Schließlich durften sich alle setzen.
Elysa dachte, wie einsam die Priorin wirkte, bleich und mit eingefallenen Wangen. Allein saß sie an einem erhöhten Tisch, der auch für ehrenwerte Gäste und auserwählte Schwestern vorgesehen war. Nun aber, da Ida verschwunden war, hatte sie niemanden,der sich an ihre Seite stellte, nicht einmal Radulf von Braunshorn, der es offenbar vorzog, auf das gemeinsame Mahl zu verzichten. Warum bat sie nicht eine andere Nonne zu sich an den Tisch? Die Celleraria Ermelindis etwa oder Jutta?
Elysa fing einen strafenden Blick der Oberin auf und senkte den Kopf. Einen Moment verharrten alle schweigend, dann gab die Priorin das Zeichen zur Lesung: Das Mahl konnte beginnen.
Es war dunkel im Raum, obwohl es noch Tag war. Niemand hatte sich darum bemüht, die Fackeln zu entzünden. Nur eine kleine Kerze stand auf dem Pult, um der Vorleserin zu leuchten.
Irmentraut, eine der älteren Nonnen, die Elysa nur beiläufig wahrgenommen hatte, war zur Tischlesung erwählt worden, doch sie verhaspelte sich häufig, stockte inmitten der Sätze und machte es den Anwesenden schwer, ihr mit der gebotenen Andacht zu lauschen.
Das aufgetragene Essen, Kraut und ein wenig gesalzener Fisch, wurde kaum angerührt. Nur Otilie aß hungrig, aber gedankenverloren, die Augenbrauen noch immer finster zusammengezogen.
Elysa beobachtete, wie Margarete sich zur Schale mit dem Fisch herunterbeugte, sie argwöhnisch betrachtete, beschnupperte und von sich schob. Dann griff sie nach dem Kraut, kaute vorsichtig und schob auch dieses nach wenigen Bissen beiseite.
Seit ihrem Zusammenbruch hatte Margarete sich stets in der Nähe der anderen aufgehalten, doch die Gefahr war noch nicht vorbei. Wer immer sie hat töten wollen, lauerte im Dunkeln und wartete auf einen Moment der Unachtsamkeit.
Ich muss Ermelindis befragen, dachte Elysa. Die Celleraria hatte das vergiftete Fleisch in die Krankenstube gebracht.
Draußen tobte das Gewitter. Der neuerliche Regen hatte die Stufen zur Klosterkirche vom Blut gereinigt, und doch würde es in der Erinnerung ewig dort haften.
Sobald die Priorin die Glocke zum Ende des Mittagsmahlsgeläutet hatte, strömten die Nonnen aus dem Refektorium, um sich zur Mittagsruhe auf die Strohlager im Dormitorium zu legen oder sich in der Kirche einzufinden, um sich ins stille Gebet zu versenken.
Elysa hingegen folgte Ermelindis zur Küche, die neben dem Refektorium im südlichen Konventsgebäude lag.
Als Elysa den überraschend kleinen Küchenraum betrat, zuckte sie unwillkürlich zurück. Dort war ein Tisch, an dem drängten sich lumpenverhüllte Menschen, Frauen wie Männer. Elysa zählte sechs Personen.
Eine Küchenmagd schöpfte Brühe aus dem großen Kessel, der an einer Kette über dem Feuer hing, und stellte eine große Schale auf den Tisch, um die sich nun alle rissen, bis einer der Kräftigeren die Schale erbeutete, an den Mund hielt und die Brühe unter dem Gezeter der anderen schlürfend austrank.
Gerade wollte Elysa umdrehen und den Raum eilfertig verlassen, da wurde Ermelindis ihrer gewahr. »Was hast du hier zu suchen?«, fragte sie in gestrengem Tonfall. »Hast du nicht ausreichend zu essen bekommen?«
»Doch, doch«, stammelte Elysa. Sie konnte den Blick nicht von den zerlumpten Menschen wenden, die nun eine neue Kelle Brühe erhielten.
»So sprich – oder hat es dir die Sprache verschlagen?«
Eine der Frauen hatte die Schale an sich gerissen, schrie kurz auf, als sie die heiße Brühe schluckte, trank aber hastig, bevor ein anderer ihr die kostbare Flüssigkeit entreißen konnte. Die Schale fiel zu Boden und zerbrach, ein Rest Brühe spritzte hoch und versickerte im Boden.
Elysa wich zurück.
»Ist dir der Anblick der Armut zuwider? Wähnst du dich besser, nur weil man dich mit einem sauberen Habit bekleidet? Verachte den Hungrigen nicht, und betrübe den Menschen nicht in seinerArmut. Wende deine Augen nicht weg
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