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Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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er die Welt und verstärkte sie mit den vier Elementen. Die Schöpfung, geschaffen zum Dienst des Menschen, hatte keinerlei Widerstand verspürt, doch als der Mensch sich Ungehorsam anmaßte und Gott nicht gehorchte, verlor auch sie ihre Ruhe und geriet in Aufruhr. Weil der Mensch selbst sich dem Schlechteren zugeneigt hatte, sollte er durch sie gestraft werden.
    Seit der Sintflut hatten sich die Seelen der Menschen zum Besseren gewandt, wie auch der Erdboden unter der Nachwirkung der Wasserfluten und der Sonne prächtigeres Grün sprießen ließ als je zuvor. Das war aber lange her, nun nahm der Verfall erneut seinen Lauf.
    Doch sie wähnten sich in Sicherheit. Sie dachten, die Elemente ließen sich besänftigen, wenn man Kreuzzeichen gen Himmel zeichnete, das Credo in Deum sprach und die vier Evangelisten anrief. Sie freuten sich, als der Hagel schwand. Glaubten, Gott stehe ihnen bei, wenn sie eine von ihnen gleich Jona ins Meer warfen.
    Sahen sie denn nicht, dass es noch immer nicht vorbei war, nur weil der Wind die Luft anhielt und die Fluten des Regens versiegten? Erkannten sie nicht, dass das Meer nicht still würde, weil das Unglück nicht von der Einen kam?
    Aber sie hatten nicht gelernt, in Kontemplation zu lauschen, innezuhalten, um zu erkennen. So wie sie, Ida von Lorch.
    Ida stand still, seit Stunden schon, harrte aus, wartete. Ihre Handflächen brannten, das Wachs zog die rohe Haut zusammen, doch sie atmete tief und langsam und weigerte sich, den Schmerz zu spüren.
    Erinnerungen stiegen auf, an eine Zeit, in der auch sie nicht innezuhalten vermochte, abgelenkt durch die überquellenden Farben der Schöpfung. Nie würde sie den Anblick der Bäume vergessen, wenn die hellstrahlende Sonne das Grün entfachte und die Blumen aus der Erde trieb. Nie den Anblick der aufblühenden Farbenpracht, die Bienen anzog und Schmetterlinge, lustig flatternd und dem Auge wohlgefallend. Nie die bunten Farben der Erde, die der Herbst auf die vergehenden Blätter malte, nie das Glitzern der Sonne auf dem Schnee.
    Was ihr blieb, war das Summen der Bienen, das Rascheln des Laubes und das Knirschen des Schnees. Der liebliche Geruch der Natur, der Tau unter den Füßen, das sanfte Streichen des Windes.
    Gleichwohl war Ida dankbar. Gott hatte ihren Hochmut gestraft, als sie sich in Sehnsucht nach seinem hellleuchtenden Licht verzehrte, nach dem Feuer, das unbegreiflich und lauter Leben ist. Und nicht erkannte, dass nicht die Frömmigkeit sie trieb, sondern der Neid auf die Meisterin, der es vergönnt war, vom Herrn erwählt worden zu sein.
    Der Neid ist zerstörerisch, lässt die Liebe ersterben und das Mitgefühl. Und doch war es eben jene Meisterin gewesen, die ihr die Hand reichte, als der Schöpfer ihr nicht seine Worte gegeben, sondern das Augenlicht genommen hatte.
    Ida hatte gehadert, damals, als sie dem Hohn und Spott der anderen ausgesetzt war, die sie, nun missgebildet und unbeholfen, stolpern ließen und sie drehten, bis sie fiel.
    Hildegard hatte die Unbarmherzigen gemaßregelt und sich vor die Erblindete gestellt. Ihr einen von der Sonne erwärmten Bergkristall auf die Augen gelegt, um die üblen Säfte aus den Augen zu ziehen. Bergkristall, Stein der Demut, er wollte ihre Sicht nicht erhellen, denn die Demut war nicht in ihrem Herzen.
    Hildegard war an ihrer Seite gewesen, hatte sie gelehrt, mit den Sinnen zu sehen, sich der Hilfe eines Stabes und der Führung des Herrn anzuvertrauen.
    Den Stab hatten sie ihr nun genommen, um sie zu brechen, doch Ida war wie die Weide im Wind, die man wohl beugen konnte, nicht aber zerbrechen.
    Heute Morgen, als Radulf von Braunshorn den Herrn um ein Zeichen anrief, hatte sie es erhalten, unerwartet, schöner als erhofft.
    Das Licht hatte über ihre Augen gestrichen und ihr eine Bilderflut geschenkt, ausgehend von dem Einen, der auf dem Berge thronte, in hellem Glanz.
    Er hatte nicht die Stimme erhoben, kein Wort war ertönt, und doch hatte Ida mit einem Mal gewusst, was zu tun war. Es war an der Zeit, die Menschheit an ihre Christenpflicht zu erinnern, dem Teufel abzuschwören, wenn sie nicht untergehen sollte.
    Ein Geräusch ließ Ida zusammenfahren. War es ein Schluchzen? Rasch entfernte es sich wieder. Es war ungewöhnlich still für diese Zeit. Gewiss, es war die Zeit der Mittagsruhe, doch nicht immer waren die Nonnen so schweigsam. Heute jedoch schien etwas anders zu sein, und Ida ahnte, dass es nicht an dem Gottesurteil lag.
    Sie tastete mit den unversehrten Fingerspitzen

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