Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
sich vom Turm und besudelte die Stufen zur Kirche mit ihrem Blut.«
»Anna?« Es war, als risse der Boden vor ihr auf. Ida schwankte, warf suchend die gequälten Hände nach vorne und fand Halt am Pult. »Nie würde sie sich in Ungnade stürzen! Man stirbt an Krankheiten, Seuchen, Unfällen, Mord. Nie hörte ich je von einer solchen Tat. Jemand muss sie gestoßen haben.«
»Nein. Sie stürzte sich hinab, wir alle waren Zeugen. Gudrun kam in den Turm geeilt und versuchte, sie zu halten, doch das Gewand riss, und Anna fiel mit seligem Lächeln.«
»Warum tat sie nicht Buße, der Herr hätte ihr verziehen!«
»Buße? Wovon sprichst du? Welche Sünde könnte groß genug sein, dass eine Braut Christi sich zerschmettert und ihrer Seele die Heimkehr ins Himmelsreich verwehrt? Es geschah auf Einflüsterung des Teufels, der sich umtreibt und das Kloster in Angst und Schrecken versetzt. Doch der Teufel war nicht Radulf von Braunshorn, der unten stand und sie zur Umkehr beschwor.« Ihre Stimme überschlug sich. »Und du maßt dir an, ihn zu verurteilen und zu behaupten, deine Erkenntnis käme vom Licht. Was sind das nur für Irrtümer, die diesen Wahnsinn treiben? Die alte Schlange ist voller Schlauheit und betrügerischer List, ihr tödliches Gift hat auch dich ergriffen, als es dir eingab, GottesBotschaft zu hören, während sie unseren Konvent zerstört. Das Böse raubt die geistige Freude und lässt uns zweifeln, ob wir gerettet werden können. Die Schwestern sind beunruhigt, ich hörte sie flüstern. Sie werden gehen und sich anderen Klöstern anschließen. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Selbst die Handwerker sind geflohen. Wer wollte schon länger an einem Ort wie diesen verweilen?«
Ida atmete tief ein. Wie konnte Agnes derart an ihren Worten zweifeln? Ja, die Priorin war dem falschen Herrn zugetan, doch ihre Seele wollte sich nicht erretten lassen. Wie sollte sie nun ihren Auftrag erfüllen, ohne den Rückhalt der Oberin? Jenen Auftrag, den Hildegard von Bingen ihr gab, damals, als sie sie beiseitenahm und bat, nach Eibingen zu gehen, als Hüterin der Ordnung.
»Gut, gib mir meinen Stab zurück, und ich werde in die Krankenstube zurückkehren. Doch nicht als Entflohene, denn ich stellte mich Gottes Urteil und verblieb in den Mauern des Klosters. Aber ich werde der schwachen Natur nicht nachgeben, sondern tapfer Krieg führen, mit weiser Geduld und der Kraft des Löwen. Denn ich darf mich den Pfeilen des Teufels nicht aussetzen, der da heißt: Radulf von Braunshorn.«
12
A ls Gottfried von Werlau die erzbischöfliche Kanzlei verließ, war er voller Zweifel. Man hatte ihm glaubhaft versichert, er werde für seine Mithilfe reichlich belohnt werden. Auch würden dem Stift keine Konsequenzen drohen, keine Einschränkung der Bewegungsfreiheit, wenn er, Gottfried, all das offenbarte, was er wusste.
Clemens von Hagen hatte ihm vertraut, als er erzählte, warum er durch das Erzbistum reiste, ohne Weisung, getrieben von dem Gedanken an eine Vision der seligen Hildegard, die es zu verkünden galt. Aber war dessen eigenmächtiger Wunsch wichtiger als die Zukunft des Stiftes?
Als Gottfried dann Wilhelm von Bliesen und dem Magister Scholarus des Mainzer Doms in der Kanzlei gegenüberstand, war alles aus ihm herausgesprudelt – alles, was er am Morgen vor der Laudes auch dem Propst erzählt hatte, nachdem der sein Geschick, sich zu verstellen, überschwänglich gelobt hatte. Er hielt erst inne, als Wilhelm von Bliesen das feiste Gesicht zu einem Grinsen verzog und sich die Hände rieb.
»Gut gemacht, ehrwürdiger Gottfried. Ihr habt uns eine Menge Ärger erspart.«
»Was wird nun geschehen?«
»Wir überlassen es dem Lauf der Dinge, denn nun, da ihr dem Boten seine ursprüngliche Botschaft zurückgegeben habt, wirdRadulf von Braunshorn gewarnt sein. Er wird die rechte Entscheidung treffen, wie mit der Adeligen derer von Bergheim zu verfahren ist.«
»Und was geschieht mit Clemens von Hagen?«
»Ihr hättet Euren Stiftbruder nicht an uns verkaufen sollen, wenn er Euch derart am Herzen liegt«, versetzte Wilhelm süffisant.
»Doch Ihr hattet versprochen, ihm nicht zu schaden«, entgegnete Gottfried beunruhigt.
»Sicher, doch wer könnte es uns verwehren, ihm seine Resignation nahezulegen.«
»Und die Vision?«
»Was soll damit sein?«
»Was ist es, das Euch so aufscheucht, was habt Ihr von der Vision zu befürchten? Hildegard von Bingen ist längst tot, sie kann Euch nichts mehr anhaben?«
Wilhelm von Bliesen
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