Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Gesicht in das trübe Licht des bewölkten Himmels. »Hildegard vertraute mir die Aufgabe der Hüterin an. Sie sagte, ich solle dafür Sorge tragen, dass dieses Kloster in hellem Glanz erstrahlt, wenn dereinst der Tag der Abrechnung kommt. Dann aber erschien der Mönch und mit ihm das Böse.«
»Das Böse kam nicht vom Mönch, sondern von jenen Menschen, die ihn folterten und hier im Kloster töteten«, wandte Elysa ein.
»Er brachte die schlechten Winde. Die Elemente sind aufsässig seit jener Zeit.«
»Doch nicht durch ihn.«
»Ich sah den Mönch auf dem Hildegardisfest im Kloster Rupertsberg«, warf Margarete eifrig und mit geröteten Wangen ein. »Adalbert von Zwiefalten war ein enger Vertrauter der Meisterin.«
Ida nickte ergeben. »Meine Zeit im Kloster Rupertsberg ist lange her. Den Mönch habe ich nie kennengelernt.« Sie drehte sich zu den beiden Frauen um. »Doch zurück zu dem Schriftstück – wo befindet es sich?«
»Es ist verbrannt.« Margarete flüsterte es.
»Verbrannt?«
»Zumindest nur ein kleines Stück«, berichtigte Elysa. »Es mussnoch ein weiteres, größeres geben, das der Mörder Adalbert entrissen hat.«
»Entrissen?« Idas Stimme bebte. »Wie groß war das Stück, das ihr in den Händen hieltet?«
»Eine Ecke nur, nicht größer als eine Hand.«
Ida schloss die verbundenen Hände wie zum Gebet. »Das Pergament war fein, ja, viel zu fein für unser Kloster«, flüsterte sie, als spräche sie nur zu sich selbst. »Es hätte mir früher auffallen müssen, als ich es erfühlte. Doch meine Hände haben ihren Tastsinn verloren, ich bin mit den Fingerkuppen noch nicht so geübt.« Sie blickte auf und starrte mit trüben Augen zur Fensteröffnung, vor der der Tag langsam versank. Dann wandte sie sich in Margaretes Richtung. »Bist du dir sicher, dass es verbrannt ist?«
»Gewiss. Ich dachte, es sei ein Werk des Teufels, das es zu vernichten gelte. Also ging ich zum Altar und entzündete es mit dem Feuer der großen Kerze.«
»So muss ich mich irren, doch ich fühlte ein solches Fragment auf dem Schreibpult der Priorin.«
Eine Zeitlang hatten sie geschwiegen, in ernsten Gedanken versunken. Plötzlich war Leben in Margarete gekommen. »Nein, Ida, vielleicht irrst du dich nicht. Als ich das Leinen, mit dem ich das Fragment umschloss, aus dem Versteck zwischen dem Gemäuer des Backhauses entnahm, war ich verwundert, denn ich glaubte es ein Stück weiter zur linken Seite. Doch es war nicht das erste Mal, dass ich mich darin irrte, also maß ich dem keinerlei Bedeutung zu. Ich nahm das Leinen, ohne nach dem Inhalt zu sehen. Was, wenn die Priorin selbst das Pergament aus seinem Versteck holte und ich nur die Hülle verbrannte?«
In diesem Moment, als Elysa in der engen, klammen Zelle auf ihrer Strohmatte saß und sich des Gespräches erinnerte, überkam sie ein heftiges Klopfen in der Brust. Draußen war es dunkel.Elysa starrte in das Licht der Laterne und begann, langsam und beharrlich zu atmen. Bald würden alle schlafen. Bis auf Ida und Margarete, die darauf warteten, dass Elysa in die Zelle der Priorin eindrang und das Fragment oder gar den anderen Teil des Pergaments zu ihnen ins Skriptorium brachte.
17
H atte Clemens gehofft, er könne die Äbtissin noch am Abend der Ankunft sprechen, musste er nun feststellen, dass sie eine sehr beschäftigte Frau war. Gleich nach dem Essen hatte die Markgräfin sich an ihre Fersen geheftet, unablässig schwatzend, bis sie die Kirche zur Komplet betraten und die Äbtissin zur Ruhe mahnte.
Auch die Komplet nahm eine Länge ein, die Clemens für ungewöhnlich erachtete. Nun begann der Hymnus mit einer kühn gefassten Melodie, die den Stimmen der Nonnen einen großen Tonumfang abverlangte:
Ave, generosa,
Gloriosa et intacta puella.
Tu pupilla castitatis,
Tu materia sanctitatis,
Que Deo placuit.
Ein tönender Kosmos, der in der Musik der Sphären gipfelte, erfüllte die Kirche. Gesänge, die reich und überquellend alles von der Gregorianik Ausgehende mit eindrucksvoller melodischer Gestaltung überboten.
Clemens betrachtete die Gesichter der Anwesenden. Dieses Kloster schien in eine eigene Welt entrückt zu sein – andächtig und gut, hell und strahlend, voller Wärme und Barmherzigkeit.War denn von dem, was außerhalb der geschützten Mauern vor sich ging, nichts an sie herangetreten? Pflegte denn die Äbtissin keinen Kontakt zur Außenwelt, wie die selige Hildegard es getan hatte, als sie sich, begierig auf Informationen, mit den
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