Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Elysa zu drehen.
Elysa nickte ihr aufmunternd zu. Das Feuer im Ofen war verglommen, ein paar Tonkrüge standen ungeordnet auf dem Tisch vor dem Schrank, in dem Jutta ihre Kräuter und Mixturenaufbewahrte. Noch war die Medica nicht zugegen, sie mussten die Zeit nutzen.
»Ehrwürdige Schwester«, begann Margarete und kniete sich neben das Lager. »Ich, Margarete, Magd Gottes, bitte dich, Ida, der durch Gottes besondere Gnade Erleuchteten, um Antwort für eine Frage, die mein Herz betrübt.«
Eine Weile geschah nichts. Plötzlich aber erhob sich Ida und tastete nach ihrem Stab. »Du willst mit mir sprechen? Dann folgt mir, du und die Anwärterin«, sagte sie entschlossen und ging mit sicheren Schritten voran.
Sie durchquerten den Kreuzgarten und betraten das westliche Konventshaus. Zu Elysas Erstaunen hielten sie vor ihrer Zelle – jener Zelle, die man ihr bei der Ankunft zugewiesen und die sie seit dem gestrigen Tage nicht mehr betreten hatte.
Ida klopfte mit ihrem Stab gegen das Holz der Tür. »Wir wollen das Schweigen lieber an einem Ort brechen, an dem uns das Sprechen erlaubt ist.«
Später, als Elysa wieder alleine in der engen, klammen Zelle lag und über das Gespräch nachdachte, begriff sie, dass sie sich in der Einschätzung der blinden Nonne geirrt hatte.
Ida war ein äußerst strenggläubiger Mensch, den Regeln treu ergeben. Doch wenn deren Dehnung vonnöten war, fand sie Auswege, ohne sie zu verletzten.
Die unumwundene Verehrung jedoch, die Margarete angesichts Idas Erleuchtung am Morgen offenbarte, konnte Elysa nicht teilen. Noch immer gehörte die blinde Nonne zu dem Kreis derer, die Margarete hätten schaden können. Wenngleich die Vorstellung, Ida könne unbemerkt einen Stein erheben und ihn gezielt auf Margaretes Kopf werfen, ihr geradezu absurd erschien.
Schon bald hatten sie erkennen müssen, dass Ida nicht gewillt war, eine Vision vorzutäuschen, um eine Antwort zu geben. Stillund mit streng zusammengezogenen Augenbrauen hatte sie auf dem Schemel gesessen und den Fragen gelauscht, die sie ihr stellten, um sie sogleich mit einer Gegenfrage zu beantworten. »Eurer Rede entnehme ich, dass es euch nach der Erforschung himmlischer Geheimnisse dürstet. Doch bevor ich euch dazu antworten werde, lasst mich wissen, was ihr an jenem Tag in der Krypta verloren hattet, zur Zeit der Nachtruhe.« Ihre Stimme klang barsch. Man hatte Ida deutlich anmerken können, mit welchem Missmut sie den Übertretungen der beiden begegnete.
Margarete hatte verschämt zu Boden gesehen, so dass Elysa sich befleißigte, die Frage zu beantworten. »Wir stiegen hinab, um ein Schriftstück einzusehen, das dort verborgen lag.«
»Ein Schriftstück? Wie kam es dahin?«
Nun antwortete Margarete, leise und voller Demut. »Ich fand es bei dem toten Mönch und versteckte es. Doch ich habe bereut und meine Sünde der Gnade des Herrn anvertraut.«
»Es war sehr kostbar und am Rande mit einer eigentümlichen Schrift beschrieben«, ergänzte Elysa, die nun eine Gelegenheit witterte, der blinden Nonne ihr Wissen um die Lingua Ignota zu entlocken. »Einer Schrift, die erst sichtbar wurde, wenn man das Papier gegen das Licht der Fackel hielt.«
»Eine sichtbar gemachte Schrift?« Idas Augen glänzten. Ihr Blick wurde mit einem Male weich, und all die Härte, die sich fest in ihr Antlitz gegraben hatte, schien im selben Moment von ihr abzufallen. »Erzählt – was saht ihr noch?«
»Auf diesem Pergament war eine Miniatur, die einer des Rupertsberger Scivias entspricht. Ebenso ein Text dieses Werkes.«
»Zu welcher Vision gehörten Miniatur und Text?«
» Tertia Visio Primae Partis , die dritte Vision des ersten Teils«, antwortete Margarete rasch.
»So ist es wahr«, murmelte Ida. Dann, als hätte jene Enthüllung ein inneres Leuchten entfacht, begann sie zu reden. »Die Schrift,die ihr meint, enthält gewiss die Buchstaben der Litterae Ignotae , einer Handschrift, die Hildegard zu Lebzeiten immer streng von der Lingua Ignota zu trennen wusste. Als Hildegard mich diese beiden zu verbinden lehrte, wusste ich, dass ich an einem ganz besonderen Geheimnis teilhaben durfte.«
»Du verstehst dich auf deren Entschlüsselung?«
»Ja, doch ich bekam keine Weisung, mein Wissen zur geheimen Verständigung zu nutzen. Wenngleich Hildegard von einem Zeitpunkt sprach, an dem dieses Wissen von großer Bedeutung sein würde.« Ida stand auf und ging zur Fensteröffnung, tastete nach dem bespannten Rahmen, nahm ihn beiseite und reckte ihr
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