Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
fehlenden Fragment zu suchen, während Margarete zur Priorin eilte, um den Tod des Mönches zu melden?
All diese Dinge gingen Elysa durch den Kopf, als die Glocke zur Vesper läutete. Der Kreuzhof füllte sich rasch. Von allen Seiten strömten Schwestern auf dem Weg zum Südportal, keinevon ihnen schien sich noch der Anweisung zu erinnern, die Kirche nur vom Hauptportal im Westen zu betreten und auch zu verlassen.
Während die Nonnen im Chorgestühl Platz nahmen und andächtig ihre Köpfe senkten, ertönte hinter ihrem Rücken das bekannte, fast schon schmerzlich vermisste Geräusch eines Stabes.
15
E s hatte noch nicht zu dämmern begonnen, als Clemens von Hagen die Stadt Bingen hinter sich ließ und die Nahe auf der alten steinernen Römerbrücke überquerte, die vom Fluss beinahe vollständig überschwemmt worden war. Mit ihm kamen Pilger und Arme, die offenbar dasselbe Ziel hatten.
Aus der Nähe erschien der Schaden am Rupertsberg noch größer zu sein, das Flusswasser hatte die Fenster der ufernahen Nikolauskapelle auf halber Höhe erreicht. Ein Stück oberhalb der Kapelle lag auch das Torhaus, das er von seinem Standpunkt auf der Brücke nicht einsehen konnte. War der Eingang zum Kloster vom Wasser versperrt?
Nun näherte Clemens sich, kaum dass er die Brücke passiert hatte, der Anlage vom Süden, erkannte die Dächer des dem Kreuzgang anliegenden Konventsgebäudes. Um zum Eingang zu gelangen, musste er das Kloster umrunden, an Mauern aus gleichmäßig gehauenen Steinquadern entlang, die den Weg säumten, die Nordseite hinunter zurück zum Ufer der Nahe.
Seine Füße vermochten ihn kaum noch zu tragen. Er ging schleppend, das verletzte Bein hinter sich herziehend. Erleichtert fand er das Torhaus vom Wasser verschont, doch es war nur noch wenig entfernt.
Das Tor stand offen, um die Pilger einzulassen, die ihn auf dem Weg überholt hatten. Die Pförtnerin, deren Augen müde in denHöhlen lagen, begrüßte ihn mit einem »Dank sei Gott« und wies ihn an, vor der inneren Pforte oben am Ende des schmalen Ganges zu warten, bis man ihn zu seiner Zelle im Gästehaus geleitete.
Eine Nonne kam und ließ ihn ein. Sie entschuldigte die Äbtissin, die in Gesprächen mit armen Sündern beschäftigt sei und sich alsbald Zeit nehmen werde, um ihn in aller Form zu begrüßen. Mit kleinen, raschen Schritten ging sie voran, am Schulgebäude, Konversenhaus und Kelterhaus vorbei bis hin zum Wohngebäude, in dem man die Gäste unterbrachte.
Clemens von Hagen war nicht der einzige Gast. Außer den Pilgern beherbergte das Kloster noch einen Propst aus Köln, einen Ritter aus Utrecht und eine Markgräfin mit Gefolge, die, aus Mangel an freien Unterkünften, im westlichen Klosterflügel untergebracht worden war und, wie es hieß, bereits seit dem Sommer hier weilte.
In der Anlage herrschte emsiges Treiben. Clemens staunte über die Zahl der Bediensteten, die über den Hof eilten und in der Küche verschwanden oder aus dem Garten kamen. Es gab welche, die die Räume putzten, und andere, die Wäsche wuschen. Clemens gewann den Eindruck, dass die Äbtissin das Kloster so führte, wie Hildegard es einst getan hatte, die den Nonnen alle niederen Arbeiten abnehmen ließ, um ihnen mehr Zeit für die meditative Innenschau zu geben, für das Gebet, das Lesen von Büchern, für Handarbeiten und die Tätigkeit im Skriptorium.
Die Nonne, die sich als Schwester Mechthild vorstellte, führte Clemens gleich nach der Zuweisung seiner Zelle ins Infirmarium, einen großzügig bemessenen Krankensaal, in dem es außer einer Medica noch zwei weitere Schwestern gab, von denen eine soeben einen Pilger zur Ader ließ.
Die andere widmete sich sogleich Clemens’ Beinwunde, wuschund verband sie sorgfältig, wobei sie abgekochtes Schafgarbenkraut verwendete. Gleich darauf wurde ihm ein neues Leinengewand gebracht und frische Beinkleider, was ungewöhnlich war in einem Frauenkloster.
Die Zeit der Vesper war gerade vorbei, als er aus dem Infirmarium auf den Klosterhof trat. Dort traf er Schwester Mechthild, die ihn bereits suchte, um ihm mitzuteilen, dass die Schwestern nun die abendliche Mahlzeit einzunehmen pflegten und die Äbtissin ihn an ihren Tisch bat.
Clemens lächelte. Äbtissin Ida von Rüdesheim, Nachfolgerin der rasch nach ihrer Berufung durch die sterbende Hildegard ebenfalls verschiedenen Adelheid, handelte im Geist der seligen Prophetin. Sie scherte sich nicht um die Beschlüsse im fernen Rom, indem sie es auch Männern erlaubte, im
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