Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Refektorium der Nonnen zu speisen.
Das Refektorium war ein stattlicher Raum mit hohen Decken, dessen große Arkadenfenster zum Kreuzgang hinausgingen. Die Tische der Nonnen waren in einem großen U geordnet, an dessen offener Seite sich der erhobene Platz der Äbtissin und ihrer Gäste befand. Unzählige Fackeln erhellten den Raum wie zu einem Fest, obgleich das trübe Tageslicht noch durch die Fenster drang und die Regel den Gebrauch von Lampen zu diesem Anlass verbot.
Eine Speisenmeisterin ging umher, wies einige Konversinnen an, das Essen zu verteilen, und beaufsichtigte die Ausgabe der Getränke.
Auf den Plätzen vor den stehend wartenden Nonnen befanden sich mannigfaltige Speisen. Suppe mit großen Gemüsestücken, frischer gedünsteter Barsch, Brot, Eier und Käse, daneben Nüsse und mit Wasser verdünnter Wein. Wahrlich, hier musste niemand Hunger leiden.
Für die Gäste der Äbtissin hatte man außerdem Fleisch aufgetischt. Dampfend und herrlich duftend standen Schalen mit gebratenemSchwein auf dem Tisch, Hühnerschenkel fein drapiert neben getrockneten Trauben. Es gab unverdünnten Wein in Bechern aus getriebenem Silber. Clemens fragte sich unwillkürlich, ob man ihre Schwestern auf der anderen Seite des Rheins vergessen hatte, die den Tag mit Getreidebrei begangen und froh über jedwede Abwechslung im Speiseplan waren.
Dann betrat die Äbtissin den Raum. Ida von Rüdesheim war eine Greisin, mit runzeligem Gesicht und trüben Augen. Ihre Haltung von Schmerzen gebeugt, der Gang schleppend. Das Gewicht ihres Körpers auf den Äbtissinnenstab gestützt, der auffallend fein gearbeitet war, mit elfenbeinerner Krümme in Form einer knorrigen, nach innen verzweigter Rebe.
Das letzte Mal, als Clemens sie gesehen hatte, war sie noch neu im Amt gewesen, einstimmig gewählt. Sie lächelte, und durch die Trübsichtigkeit des Alters strahlte eine herzliche Wärme.
»Ich freue mich, Euch zu sehen, ehrenwerter Kanonikus«, flüsterte sie und nickte ihm zu. Dann sprach sie das Gebet, gab der Lektorin am Pult ein Zeichen und bedeutete den Anwesenden, sich zu setzen.
Schweigend folgten sie der Lesung der Lektorin.
»Ich schaute in der Mitte der beschriebenen südlichen Region drei Gestalten«, begann die Nonne mit wohlklingender Stimme, dann las sie von himmlischen Gestalten, umgeben von purpurnem Schimmer und blendend weißem Glanz, das Antlitz strahlend von Herrlichkeit.
Die sanfte Stimmung der erbaulichen Worte schien sich auf die Schwestern zu übertragen. Die meisten von ihnen lauschten voller Andacht, während sie schweigsam ihr Mahl zu sich nahmen.
Der Propst von Köln hingegen, ein Mann mit feistem Gesicht und ebenfalls Gast am Tisch der Äbtissin, beugte sich lächelnd zu Clemens und sprach leise, den Mund voller fettem Fleisch. »Zumindest weiß ich, dass das Fleisch hier gut ist und äußerst zart,ein besseres bekommt man in dieser Gegend nicht.« Er grinste und sah Clemens um Beifall heischend an.
Der Kanonikus wandte sich wortlos ab. Weder sehnte er sich danach, sich über das Essen auszutauschen, noch konnte er den Worten der Lektorin folgen. Die andächtige Stimmung wollte sich nicht auf ihn übertragen. Mit wachsender Unruhe beobachtete er, wie die Augen der Äbtissin sich schlossen, während sie mit dem Essen innehielt.
Das üppige Mahl zog sich dahin, bis die Äbtissin endlich hochschreckte, das Essen beendete und die Nonnen aufstanden, um sich zur Komplet in den Chor zu begeben.
16
W ährend der Messe hatte Elysa ihre Gedanken nicht ordnen können. Sollten sie die zurückgekehrte Ida als Prophetin befragen, so, wie sie es sich am Mittag erdacht hatten?
Elysa war erschöpft, erschlagen von den Gedanken, die ewig kreisten und keinen Halt fanden, sie vermochte den Worten des Seelsorgers nicht zu folgen, nicht den Hymnus singen und nicht den Lobgesang.
Margaretes Gesicht aber leuchtete, sie sang mit voller Stimme, immer wieder hatte sie zu Ida geblickt, die ebenso inbrünstig der Messe folgte, als hätte man sie nicht den ganzen Vormittag suchen müssen. Wusste sie von Anna? Hatte sie sich an einem Platz verborgen, an dem man den Aufprall hören konnte und das Geschrei der Nonnen?
Gleich nach der Messe waren sie der blinden Nonne in die Krankenstube gefolgt. Als Margarete sah, dass sie mit ihr alleine waren, eilte sie erfreut zu Idas Lager, um sie voller Verehrung zu begrüßen.
Ida ignorierte die ungewohnte Zuneigung und verharrte unbewegt, was Margarete dazu veranlasste, sich unsicher zu
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