Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
die geheime Verständigung.«
»So wusstet Ihr von der Vision?«
»Gewiss. Von der Vision und von der Gefahr, die der Christenheit drohte.«
»Was noch?«
»Die Zeichen der Verkündung.«
Clemens begann, auf und ab zu gehen. Mit großen, bedachtsamen Schritten maß er den Weg vor der Kapelle, um sogleich umzudrehen und zur Bank zurückzukehren. Seine Gedanken rasten. Abrupt blieb er stehen. »Wäre es möglich, dass der Schaden, den die Christenheit erleiden soll, sich bereits zutragen hat?«
»Was meint Ihr genau?«
»Nun, nehmen wir an, Ihr hättet Euch mit der Deutung der Zeichen geirrt, und der Teufel, der die Christenheit ins Verderben stürzt, ist bereits im Gewand des Saladin, Herr über Syrien und Ägypten, erschienen, um das himmlische Jerusalem zu zerstören. Nehmen wir weiter an, die letzte Vision der Prophetin wäre eine Warnung vor der Vergeltung, in der nun die höchsten Kirchenfürsten aufbrechen, ebenso wie die weltlichen und das gläubige Volk. Denn, was geschieht, wenn sie alle in einer weiteren List des barbarischen Herrschers straucheln und er sich anschickt, die Stütze der Christenheit zu brechen?«
»Ich weiß es nicht. Das müsst Ihr erkennen.« Nun war auchJohanna aufgesprungen. »Nur eines weiß ich genau: dass ich die Zeichen nicht missdeutete.«
»Von wem habt ihr die Anweisung zur Deutung bekommen? Von Agnes?«
Johanna nickte mit unglückseligem Ausdruck. »Aber sagtet nicht selbst Ihr, die Zeit sei erst gekommen, wenn der Papst zur Reise ins Heilige Land aufrufe? Wie können wir uns geirrt haben?«
Vielleicht waren sie zu spät, vielleicht aber war das alles nur hohle Theorie. »Ich muss nach Eibingen. Rasch, bringt mir ein Pferd und ein Boot, das mich hinübersetzt!«
»Jetzt?«
»Ja, jetzt. Die Zeit eilt. Wie lange werde ich nach Eibingen brauchen?«
»Gemäß der Zeit zwischen den Stundengebeten. Wenn Ihr sogleich einen Fährmann findet, weniger. Doch es ist dunkel und windig, kein Schiffer wird Euch jetzt über den Rhein setzen können. Die Wasser stehen hoch, und die Strömung ist reißend. Bei Nacht sind die Stromschnellen unbezwingbar. Wollt Ihr Euch dieser Gefahr aussetzen und in den Wassern ertrinken?«
Clemens atmete tief ein. Er dachte an Agnes und an Elysa. »Die Feigheit ist wie ein schmutziger Wurm, der sich in der Erde verkriecht. Soll ich mich der Schwäche ergeben und der Angst um mein Leben, wenn es doch gelten soll, das Leben der anderen zu schützen? Hildegard ehrte die Tapferkeit, gleich der Stärke des Löwen, der furchtlos vorangeht unter der Güte und dem Schutze Gottes. Daher will auch ich mich nicht vor den Mühen drücken, weil Gott mir zu Hilfe kommen wird.«
»Der Übermut ist eine Schwester des Hochmutes. Wie wollt Ihr alleine den Rhein bezwingen? Wen wollt Ihr retten, wenn Ihr untergeht? Viele Menschen starben bereits in den Fluten, gute, gottesfürchtige Leute, auch erfahrene Schiffer. Ein Kluger siehtdas Unglück kommen und verbirgt sich; aber die Unverständigen laufen weiter und leiden Schaden.«
Clemens seufzte. Er blickte zum Himmel, dessen dunkle Wolken sich wieder zusammenballten. Widerstrebend fügte er sich. Johanna hatte recht. Was würde es nützen, wenn er in den Fluten umkam? In der Nacht konnte ohnehin nicht viel geschehen. Er würde den Morgen abwarten müssen und sich dann, noch bevor sich das Licht des Tages erhob, auf den Weg machen.
18
D ie Welt stand still, atemlos, harrte dem, was geschehen würde.
Elysa hatte die Dunkelheit der Nacht kaum erwarten können. Sehnsüchtig und voller angespannter Hoffnung ob der Suche nach dem Pergament hatte sie auf ihrem Strohlager gelegen und den Moment herbeigesehnt, an dem die Lampen allerorts erloschen und die Nonnen sich zur Ruhe betteten. Als Elysa nun aber den dunklen Kreuzgang betrat, schien die Nacht voller Schatten und Geräusche zu sein, und die Aussicht, bald die Zelle der schlafenden Priorin zu betreten, ließ ihr Herz in Furchtsamkeit sinken.
Ein Geraschel ließ sie herumfahren. Elysa starrte in die Schwärze des Innenhofes, hinüber zu den Arkaden des gegenüberliegenden Ganges. Doch er lag ruhig und verlassen da.
Elysa atmete tief durch, es war gewiss nur ein Tier gewesen, das sie erschreckt hatte.
Gerade wollte sie ihren Weg fortsetzen, als Stimmen und ein rhythmisches Klappern von außerhalb der Konventsgebäude herüberwehten. Sie erkannte das Hufklappern eines Pferdes, das in den Klosterhof geführt wurde. War es der Laienbruder Gregorius, der zum Kloster
Weitere Kostenlose Bücher