Perlensamt
hatte Rosies Unwohlsein, ihre Panik gespürt. Das hatte ausgereicht, mich selbst unwohl zu fühlen. Alarmiert. Der Unfall war nur der Höhepunkt einer langsam sich zuspitzenden Situation. Das war das Persönliche, das ich mit diesem Ort verband – etwas, auf das weder ich noch Rosie freiwillig zurückkommen wollten. Mir war die Situation unangenehm, geradezu lästig. Aber wie sollte ich das der guten Frau Mothes erklären? Sie hatte sich in dieser Umgebung wohl gefühlt. Gemütlich nannte sie das Haus.
Bob hatte einmal erwähnt, wie enttäuscht die Großeltern gewesen seien. Ihm hatten sie leidgetan. Bevor Rosie ihre allergischen Reaktionen entwickelte, hatte er versucht, sie zu einer weiteren Reise nach Deutschland zu bewegen. Sie hatte sich verzweifelt gewehrt. Sie hatte jede weitere Berührung mit ihren Eltern gescheut. Allein deren Art, sich allem und jedem unterzuordnen und ständig darauf bedacht zu sein, was sogenannte andere Leute von ihnen dächten, Verwandte, Bekannte, Nachbarn, hatte sie abgestoßen. Ihre Eltern hätten ein Kuckucksei ausgebrütet, peinlich berührt, daß für ihre Tochter nichts gut genug sei. Ich sah mich um. Nichts gut genug? Was für ein merkwürdiger Schluß. Diese sogenannte Gemütlichkeit hätte mich bei einer weniger eigensinnigen Mutter das Leben gekostet. Rosie hatte sich einfach auf den Standpunkt gestellt, daß diese verdammte Gemütlichkeit nicht nach ihrem Geschmack war, so wenig wie das fette Fleisch, das hier auf den Tisch gekommen war. Ich war ihr dankbar dafür.
Frau Mothes ließ nicht locker, gewissenhaft bemüht, einen Kontakt herzustellen zwischen der Ausgewanderten und diesen Resten hier. Bei der Durchsicht der Schränke hätte sie in der Speisekammer eine Lederkassette gefunden. Zweimal sei das Paket unterwegs gewesen nach Amerika. Immer sei alles zurückgekommen mit dem Vermerk, Rosie sei unbekannt verzogen.
»Was ist eine Speisekammer?«
Sie zeigte mir hinter der Küche einen kleinen Raum. Eine Person hätte gerade hineingepaßt, stehend. Der Raum war mit Holzregalen ausgeschlagen und mit Vorräten bestückt, Brot, Marmeladengläsern, Nudeln, Essig- und Bierflaschen. In manchen Regalen lag sorgfältig aufgereihtes Obst. In New York wäre ein solcher Verschlag undenkbar. Das mußte ein Paradies für Kakerlaken und Ameisen sein. Frau Mothes zeigte in die hintere Ecke auf das unterste Bord.
»Hier habe ich die Kassette beim Großreinemachen gefunden, auch erst beim zweiten Mal. Beim ersten Mal hat meine Tochter geputzt. Kölsche Wisch hat das Kind gemacht. Na ja, sie war damals achtzehn, da interessiert man sich nicht so sehr dafür. Im folgenden Jahr mußte ich den Frühjahrsputz alleine machen. Dabei entdeckte ich die Kassette. Es war wohl der Schmuck Ihrer Großmutter, Herr Doktor. Frauen tun Dinge, die ihnen wichtig sind, ja immer an komische Orte. Ich habe sie hervorgeholt und erstmal abgewischt und ein bißchen aufpoliert. Sicher hat Ihre Großmutter sehr daran gehangen. Ich habe das Kästchen dann, nachdem es immer wieder zurückkam, oben im Schlafzimmer aufbewahrt. Ich dachte, irgendwann wird Ihre Frau Mutter kommen, um nach dem Rechten zu sehen.«
Die freundliche Frau Mothes kam mit der Kassette zurück.
»Hier ist sie, bitte.«
Sie sah mich aufmerksam an. Sie wartete wieder auf eine Reaktion, Erleichterung vielleicht, endlich etwas Verlorengegangenes gefunden zu haben, ein Lächeln, irgendeine Regung, die Glück verhieß. »Sie ist verschlossen. Ein Schlüsselchen fand sich dazu nicht.«
Eine Kassette so groß wie eine Zigarrenkiste, doppelt so hoch, eingebunden in dunkelrotes Leder. Die Ecken abgewetzt. In der Mitte ein einfaches, kleines Messingschloß. Was immer an Schmuck darin war: Ich wußte, daß Rosie sich für dieses Zeug nicht interessieren würde. Sie wollte alles loswerden, was es hier noch gab. Was sollte ich damit? Ich hätte die Kassette samt Inhalt gern Frau Mothes geschenkt. Aber das Schloß in ihrem Beisein zu knacken, schien mir dreist, irgendwie überheblich. Frau Mothes hatte das schäbige Ding so respektvoll behandelt, es so sorgfältig für Rosie gehütet, daß ich sie nicht verletzen durfte, indem ich mich verächtlich oder desinteressiert zeigte. Ihr die verschlossene Kassette zu überlassen, sie zu zwingen, sie aufzubrechen, war auch keine Lösung. Wie ärgerlich, daß die Post, auf deren Wegen genug verloren geht, in diesem Fall so zuverlässig funktioniert hatte. Widerwillig nahm ich den Fund entgegen, um ihn in Berlin
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