Perlensamt
kann als Mutter eines Amerikaners.« Bob grinste. »Man ist Amerikaner, wenn man hier geboren ist.«
»Du meinst, mein Vater …«
»… ich kann dir nichts dazu sagen, Martin. Ich habe sie nie danach gefragt. Es ist nicht anständig, eine Frau nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Man bringt nur Verlegenheit ins Spiel, und das gehört sich nicht. Sie wollte nie darüber sprechen. Also habe ich nie gefragt. Sie ist hier, weil sie hier sein will.« Bob kaute zufrieden. »Es ist nicht vielen Menschen vergönnt, so klug zu sein, eine, wie soll man sagen, mißliche Lage – entschuldige, ich meine das nicht persönlich, wir lieben dich sehr, aber, du verstehst schon, als alleinstehende schwangere Frau – in eine Chance zu verwandeln. Genau das hat Rosie gemacht. Sie mochte Deutschland nicht. Also ist sie weggegangen. Sie ist dankbar, daß Amerika sie aufgenommen hat. Daraus hat sie das Beste gemacht! Mehr als das Beste, wenn du mich fragst.«
Wie sie das angestellt hatte, wußte er nicht. Der Beweis war offensichtlich: ein Haus in einer der wunderbarsten Gegenden New Yorks. Nirgendwo sonst konnte man so die Skyline von Manhattan sehen. Die Leute, die Bob traf, wenn er zum Gemüsehändler ging oder im Sommer abends noch einmal ins Riverside Café … ohne Rosie wäre er dahin nie gekommen. Er war stolz auf sie.
Nach dem Essen wanderte ich, vom Rotwein erwärmt, mit Hank durch den Schnee wieder zurück. Auf der Brücke, die Wolkenkratzer der Südspitze im Blick, fiel mir ein, daß ich nur ein einziges Mal auf den Twin Towers gewesen war. Nach dem College-Abschluß hatte Bob mich zu Windows of the World eingeladen. Wir hatten allein dort gegessen, nur Bob und ich. Ich hatte mich seitdem treiben lassen. Ich wußte, was mich interessierte, aber ehrgeizig war ich nie. Nicht wie Rosie. Nichts trieb mich wirklich an. Die Kunst bedeutet mir etwas. Viel. Vielleicht – alles. Aber ich hatte, anders als viele Kollegen, nie einen Begriff von Karriere entwickelt, keine Richtung verfolgt, war eher froh gewesen, mich nicht festlegen zu müssen. Wäre der Courbet mir nicht – aus welchen Gründen auch immer – an der Wand von Davids elterlicher Wohnung aufgefallen, ja gäbe es nicht diese Verbindung zwischen dem Bild vom Meer und Perlensamt und mir, hätte ich mich vermutlich nie so engagiert. Es war dieses mysteriöse Amalgam gewesen, das mich auf die Beine gebracht hatte und eine Spur verfolgen ließ. Ich mußte lächeln. Ich hatte offenbar wenig von Rosies Zielstrebigkeit geerbt. Ich wußte nicht, was ich wollte. Nur manchmal, unerklärlich, unerwartet, wie auf Coney Island nach dem Examen, wie in der Fasanenstraße vor dem Tor, wie an diesem frühen Abend mit dem Blick auf Manhattan, hatte ich den Wunsch, die Zeit anzuhalten. Immer dann, wenn mir ein Augenblick rein und absichtslos erschien. Die blanke Ironie, zumindest was die Begegnung mit Perlensamt betraf! Ich konnte keine Zeichen lesen. Ich wußte nicht im vorhinein, was mich glücklich machen würde – und was mir gefährlich werden konnte. Ich fiel einfach in die Situationen hinein. Gut. Schlecht. Heiß. Kalt. Als fehlte mir für Pläne das visionäre Vermögen. Gern wäre ich noch bis zum Fluß hinuntergegangen. Aber Hank wurde müde. So nahmen wir ein Taxi nach Uptown. Tiere sind in der U-Bahn nicht erlaubt. Im Wagen kuschelte sich Hank an mich. Ich ließ es geschehen. Auf seltsame Art war ich immer noch zufrieden, zufrieden auch, in New York zu sein. Die Intensität überraschte mich. Vielleicht kam mir an diesem Abend zum ersten Mal in den Sinn, wie gern ich hier war. Wie vertraut mir alles war. Und daß es trotz aller Vertrautheit für mich nie die Enge gäbe, die ich teilweise in Europa verspürte. Atemnot. Das Gefühl, beobachtet und taxiert zu werden. Der Eindruck, man erwarte für jede Handlung eine Rechtfertigung – oder für die Unterlassung. Das gab es hier nicht. Zu viele Schichten lagen in diesem Manhattan übereinander, zu viele Interessen suchten sich ihren eigenen Weg, zu viele dringliche und weniger dringliche Pläne vereitelten, daß man sich um jemand anderen mehr kümmerte als um das eigene Projekt. Ich höre nicht selten, daß Europäer die Geschmeidigkeit, mit der die New Yorker einander ignorieren, erschreckt. Die alte Welt, so sagt man mir des öfteren, fühle sich von der Oberflächlichkeit, der Höflichkeit, der Unverbindlichkeit abgestoßen. Man hat in Europa keinen Sinn dafür, daß die Menschen hier die merkwürdige Distanz und freundliche
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