Perlensamt
verbotenem Terrain ergreifen. Ganz nebenbei konnte man Vergeltung üben. Die années noires sahen manche als dritte Revolution, die wahre, die alle Stände zertrümmerte und jene in die Höhe katapultierte, die nie eine Stimme gehabt hatten. Man mußte nicht einmal reden können wie zu den Zeiten um 1789. Skrupellosigkeit und Herkunft aus dem Sumpf reichten vollkommen aus. So kam es, daß manche poule à boche – Nazi-Hühner nannte man die Französinnen, die sich mit Deutschen einließen – plötzlich Seidenstrümpfe über die Schenkel zog, wo vorher graue, selbstgestrickte Wolle gescheuert hatte. Parfümierte Filethemdchen dekorierten die Spitzen rachitischer Hühnerbrüste, während die Krallen des kollaborierenden Federviehs taten, als kratzten sie noch im Mist. Sie lagen in den Damastkissen der Deportierten, von Seide umgeben, geklauten Champagner im Magen, vor Augen die seltsamen Bilder, die so wertvoll sein sollten. Was nicht einmal die untersten Chargen der Nazis und ihre Entourage gebrauchen konnten, verschob die Bande in die Schweiz und verhökerte es dort. Es war die Demütigung der Pariser Seele, die sie betrieben. Duras redete sich ins Fieber. Er erzählte von P.M., seinem Mitschüler auf dem Collège Soundso, heute tätig im französischen Außenministerium. P.M.s Vater hatte, obwohl Jude, Kontakt zu einem gewissen Eddy Pagnon gehabt. Auch der arbeitete für die Bande aus der Rue Lauriston. Der Vater seines Freundes war in einer Dependance – ja, er sprach wirklich von Dependance› als handelte es sich um ein Hotel – des Lagers Drancy interniert gewesen. Der Name endlich sagte mir etwas. Von dort aus waren auch die Nachkommen der Camondos nach Auschwitz verschleppt worden. P.M.s Vater hatte mehr Glück gehabt als die reichen Leute aus der Rue Monceau.
»Pagnon, der übrigens ein Freund und Freier der Elternmörderin Violette Nozière gewesen ist, hat P.M.s Vater in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Lager befreit. Das waren alles Kollaborateure. Diese Typen verpfiffen Menschen zur Deportation für nichts – Fusel, Unterwäsche, ein paar Autoreifen. Es war die Zeit, in der alles blühte. Es gab Gelegenheit für schnelles Geld und uralten Haß. Man konnte persönliche Dinge abrechnen, auf die eine Familie Generationen lang gewartet hatte. Gleichzeitig flackerten Eintagsfliegen auf, reich für vierundzwanzig Stunden. Sie verglühten in dem fremden Glanz, noch ehe sie aus dem Himmel, in den sie hochkatapultiert wurden, zurück in die Wirklichkeit fallen konnten. Manche brachen sich einfach das Genick, weil sie besoffen von einer Freitreppe stürzten.«
Die paar Namen, die er nannte, waren nur einzelne Wanzen aus einer Zeit, in der es vor doryphores – den deutschen Kartoffelkäfern – nur so gewimmelt hatte. Ich sollte bloß nicht glauben, daß P.M. das von seinem Vater erfahren hätte. Es gab in Europa eine Art Schweigepflicht. Diese fungierte als allgemein verbindliche Sprache einer ganzen Generation. Ob ich denn glaubte, er hätte auch nur ein Sterbenswort von seinen Eltern erfahren? Wie naiv man denn als Amerikaner sein könnte, fragte er süffisant, daß man annähme, die Eltern gäben Auskunft über das tatsächliche Geschehen? Da ich mehr von ihm wissen wollte, überging ich seine Arroganz. In den weiteren Erzählungen über das opake Viertel ging die nebenbei erwähnte Violette Nozière vollkommen unter. Aber weil ich sie nicht kannte (ich erfuhr erst später, daß sie eine Art französische Nationalheilige ist), maß ich ihr keine Bedeutung bei. Warum hätte ich mich für eine Elternmörderin und ihre Motive interessieren sollen?
Ich wollte wissen, was es mit Perlensamts Bemerkung auf sich hatte. Die Rue Lauriston, die von der Avenue Raymond Poincaré aus in Richtung Étoile verläuft, beherbergte nicht nur die Bande um ›Inspektor‹ Bonny und Pierre Laffont. Auch Lagerräume für Diebesgut und Folterkeller gab es hier. Bonny und Laffont schienen alles an Greuel in sich zu vereinigen, was einem zivilen Gemüt vorstellbar ist – und noch mehr. Duras erzählte von solch unfaßbaren Scheußlichkeiten, daß nicht mehr zu unterscheiden war, ob er sich in die Geschichte hineinsteigerte und maßlos übertrieb oder die Wahrheit wiedergab. Laffont hatte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und stand später als SS-Hauptsturmführer einem Bataillon in Nordafrika vor. Allerdings taugte er zum Soldaten weit weniger als zum Folterknecht. Bonny hatte schon lange vor der deutschen
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