Perlensamt
Ich kam überhaupt nur durch einen Zufall darauf, was Rosie tat.
Es gibt nicht viele Frauen der ersten Einwanderergeneration, die es weit gebracht haben. Viele schuften bis zu ihrem Lebensende, in mehr als einem Job, der oft kein Beruf gewesen ist. Nicht wenige gehen wieder in ihr Herkunftsland zurück, verschämt, gescheitert. Manche kommen immerhin gut zurecht, erarbeiten sich ein eigenes Haus in irgendeiner Vorstadt. Rosie war anders. Möglicherweise hatte meine Mutter nur auf einen Absprung gewartet, und die Schwangerschaft lieferte ihr den Vorwand dafür.
In der Zeit, als ich hinter ihr Geheimnis kam, traf ich mich ab und zu mit einem anderen Stipendiaten aus meinem Jahrgang, der auch aus bescheidenen New Yorker Verhältnissen stammte. An einem Samstagabend waren wir in irgendeiner Spelunke in SoHo verabredet gewesen. Ende der siebziger Jahre war es schick, sich in solchen Bars zu treffen. Das war noch, bevor die Lagerhäuser der Gegend von Künstlern und Galeristen vereinnahmt wurden. Ich war zu früh und trieb mich zwischen Prince und Canal Street herum. Da sah ich eine Frau um eine Ecke biegen. Sie ging die Wooster Street entlang. Die Haltung, der Gang – ich fühlte mich an jemanden erinnert. Ich folgte der unbekannten Frau mit dem blonden ondulierten Haar und der Jackie Kennedy-Sonnenbrille. Vor dem Haus Nummer 67 blieb sie stehen. Im Eingang saß eine Bettlerin. Die Frau sprach sie an.
»Wie geht es, Estelle?«
Das war Rosies Stimme. Aber mit der blonden Perücke hätte ich sie nicht einmal von der Seite wiedererkannt.
»Danke, danke, Mrs. Bride, das Wetter ist trocken. Ich kann nicht klagen. Haben Sie viele Termine?«
»Wie es scheint, den ganzen Abend.«
»Ich werde mir die Leute ansehen, verlassen Sie sich drauf.«
Rosie öffnete die Eingangstür und verschwand mit dem Aufzug in irgendeines der Geschosse. An der Innenseite des Eingangs waren die Firmenschilder angebracht. Auch das von Adelaide Bride. Kartna – Astrologie. Sprechstunden nur nach Vereinbarung. Ich verlor über die Geschichte kein Wort. Ungefähr zwei Jahre später, kurz vor meinem Examen – Rosie und Bob wohnten immer noch in Park Slope, aber in einem anderen Haus – saß ich mit einem Kommilitonen im University Club auf der Fifth Avenue. John-John erzählte mir von seiner durchgeknallten europäischen Tante Ruth, die regelmäßig aus Paris angereist käme. Dieses Mal nicht, wie in den Fünfzigerjahren, um sich einer Psychoanalyse zu unterziehen. Es gäbe jetzt etwas Neues auf dem Markt. In Europa sei das noch nicht angekommen. Es nenne sich Karma-Astrologie.
»Tantchen versucht nach den letzten Verwandten zu fischen, die in den Pranken der Nazis umgekommen sind. Es ist schon eine Sauerei: In den Fünfzigern verdienten sich die shrinks eine goldene Nase an uns, heute ernähren wir eine neue Spezies von Spekulanten, für die es vor einem halben Jahr noch nicht einmal einen Namen gab. Diese Quacksalberinnen sollten Abgaben in einen Wiedergutmachungsfond zahlen.«
»Ist sie reich?«
»Ich weiß es nicht, aber sie hat ihre Praxis auf der Upper East, irgendwo auf der 63. oder 64. Straße zwischen Madison und Fifth. Sie soll einen Sohn haben, der bei uns studiert. Sie heißt Adelaide Bride.«
»Ich meine nicht die Astrologin. Ich meine deine Tante.«
»Oh, wenn Adelaide es gut macht, hat sie ausgesorgt mit Tantchen, da kannst du sicher sein. Ich sagte ihr, wir hätten keinen Typen namens Bride in unserem Jahrgang.«
»Und was macht sie mit den Leuten?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber Tante Ruth kommt nun schon das dritte Mal. Ich glaube, Mrs. Bride errechnet irgendwelche Daten, die Sterne am Himmel, das nächste Donnerwetter, was weiß denn ich. Dann findet sie heraus, wie oft du bereits geboren worden bist, erklärt dir das Alter deiner Seele und welche Aufgabe du in dem dritten oder vierten und weiß der Geier wievielten Leben hast. Schließlich sagt sie solche Sachen wie Meine Liebe, Sie dürfen nie mehr von einem Menschen erwarten, als er geben kann, und dafür kassiert sie dann ab. In Indien würde man damit vielleicht als Halbgöttin verehrt, in Europa wohl eher als Hexe verbrannt.« John-John lachte sich halb tot. »Ich wünschte, uns Kerlen stünde diese Halbwelt offen. Damit machst du einfacher Kohle als an der Wallstreet, vor allem ist es ein sicheres Geschäft. Ohne Volatilität. Angst haben die Leute immer.«
An einem späten Nachmittag im November begann ich auf der Upper East Side nach einem Haus zu suchen, an
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