Perlentöchter
vor einem Tadel, aber der blieb aus. Daraufhin hatte sie dem Mädchen ein Bonbon aus ihrem Weihnachtsstrumpf vom letzten Jahr geschenkt, den es in seine Schürzentasche steckte und verschmitzt dagegen klopfte.
Und nun stand wieder Weihnachten vor der Tür, und sie würden ein Pony geschenkt bekommen! Rose schob ihren Malkasten unter die Matratze und schickte sich an, ihre kleinen schwarzen Stiefel zuzuknöpfen, was immer eine Ewigkeit in Anspruch nahm. »Wo willst du hin?«, fragte Grace vom Bett.
Die Frage erübrigte sich wohl! Es gab nur einen Ort, den sie ohne Begleitung aufsuchen durften, und das auch nur, weil er gleich um die Ecke lag, und außerdem war Rose in dem Haus, das sie besuchen wollte, immer willkommen, vorausgesetzt, sie wusste, wann sie den Mund zu halten hatte.
»Zu Ga Ga.«
Grace sprang vom Bett. »Darf ich mitkommen?«
Rose zögerte. So gern sie ihre Schwester auch hatte, aber die Zeiten mit Ga Ga waren ihr heilig. Sie waren so kostbar. Niemand redete oder verstand so wie er ihre Art, die Dinge zu betrachten. Ein Riss in der Wand sah für die meisten Menschen aus wie ein Riss, aber für Ga Ga und sie konnte er ein Schiff darstellen oder einen Baum auf einer Wiese. Sie sprachen beide dieselbe Geheimsprache, sagte er manchmal in dem vollen, tiefen Ton, der ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein statt zu groß oder »wunderlich«, wie sie Lydias Mutter zufällig mit dieser hohen Stimme, die ihre Tochter geerbt hatte, hatte sagen hören.
»Ich soll für ihn Modell sitzen.«
Graces Blick trübte sich einen Augenblick, und Rose bekam prompt ein schlechtes Gewissen. Es war geflunkert, eine Notlüge. Obwohl sie für ihren Großvater viele Male Modell gesessen hatte (was ihr Vater zwar missbilligte, aber unter der Bedingung duldete, »meiner Tochter keine Flausen in den Kopf zu setzen«), lag die letzte Sitzung schon eine geraume Zeit zurück. Ga Ga wurde zunehmend gebrechlicher, zumindest war das der Ausdruck, den Papa benutzt hatte. Sie wusste genau, was damit gemeint war, nämlich die Art, mit der sich ihr Großvater von Mal zu Mal schwerer auf seinen dicken elfenbeinfarbenen Stock stützen musste, oder die Art, wie seine Finger zitterten, wenn er eine Farbtube aufschraubte. Neulich hatte sie die Farben für ihn mischen müssen. Trotzdem schien er sich immer noch sehr über ihre Besuche zu freuen. »Wir verstehen uns, du und ich«, sagte er dann leise, während sie ihn behutsam vor die Staffelei setzte. Und Rose betrachtete es im Gegenzug als »Ga-Ga-Zeit«.
»Ich werde nicht lange bleiben.« Rose hauchte ihrer Schwester rechts und links ein Küsschen auf die Wange, bevor sie ihre Stiefel fertig schnürte, und schnappte sich ihren dicken roten Umhang. »Sag ihnen einfach, ich werde zum Mittagessen zurück sein.«
Ga Ga war an diesem Tag nicht an seinem üblichen Platz vor dem Fenster. Er hatte seine Staffelei vor die Chaiselongue gestellt oder, wahrscheinlicher, das Mädchen angewiesen, sie dort aufzustellen, sodass er das Licht im Rücken hatte, statt nach draußen zu blicken.
»Rose, sieh, was für einen Unterschied das macht«, sagte er, als sie hereinkam, ohne sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten, für die andere Menschen eine Ewigkeit zu brauchen schienen. Lydias Mutter zum Beispiel machte ein stundenlanges Theater um Rose und ihren Vater, wenn sie zu Besuch kam, auch wenn sie ihnen erst am Tag zuvor ihre Aufwartung gemacht hatte. »Das Licht verändert die Farben, nicht wahr? Dieses Grün hier wäre ein Gelb, wenn ich gegen das Licht arbeiten würde.«
Rose konnte genau nachvollziehen, was er meinte, während seine knotigen Finger nach dem Pinsel griffen und eine andere Welt vor ihren Augen heranwuchs. Das ging viel schneller, als im Garten draußen Blumenzwiebeln zu setzen. Sie hatte neulich den Gärtner beobachtet und sich gefragt, was die Zwiebeln taten, während sie darauf warteten zu wachsen. Das musste doch schrecklich langweilig für sie sein.
»Wir bekommen ein Pony!« Rose sprach mit gedämpfter Stimme, da sie ihren Großvater beim Züchten nicht stören wollte, aber gleichzeitig die Neuigkeit nicht für sich behalten konnte.
»Wirklich, mein Liebes?« Ga Ga sah kaum auf. »Und wie kommst du darauf?«
»Papa hat es Grace erzählt. Er hat gesagt, wir müssen uns das Weihnachtsgeschenk teilen, weil es sehr kostbar ist, und dass wir uns gut darum kümmern müssen.«
Ga Gas Stimme klang wie ein amüsiertes Gurgeln. »Das hat man euch erzählt?«
»Ist es denn nicht
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