Perlentöchter
Juwelen, jeder davon in einer der Farben des bunten Globus. Und davor lag ein nagelneuer spitzer Pinsel. »Mein eigener Malkasten?«, flüsterte sie.
Ihr Großvater bugsierte sie bereits hinter die Staffelei. »Exakt. Viel besser als irgendein Spiegel oder ein neues Kleid.« Er drückte ihr ein Stück Kohle in die Hand und schloss ihre Finger darum, bevor er ihre Hand sanft über das Papier führte. »Gut so. Schau geradeaus zu der Kanne auf dem Tisch. Zeichne sie vor deinem geistigen Auge nach, aber überlege nicht zu lange. Gut. Hier ein bisschen gerader … und hier ein bisschen runder. Verreibe die Kanten, schau: so.«
Kein Wunder, dass seine Ärmel so schmutzig waren!
»Ja.« Seine Stimme dröhnte hinter ihr. »Ja!«
Beide traten einen Schritt zurück. Hatte sie das wirklich bewerkstelligt? Die Kanne sah aus, als könnte Rose sie in die Hand nehmen, ohne dass die Milch herausschwappte. »Deine Mutter hatte das Auge«, sagte Ga Ga nun leise, »aber ich habe den Fehler gemacht, ihr zu verbieten, es zu benutzen. Man muss das Auge benutzen, Rose, verstehst du, oder es wird sich schließen.«
Er klappte den Deckel des Kastens zu. »Ich denke, das ist alles für heute. Schau mich nicht so an. Ich verspreche dir, dass du jeden Tag nach dem Unterricht vorbeikommen darfst. Aber den Kasten behalte ich hier.« Er sah sie nachdrücklich an. Ga Ga saß bestimmt nie am offenen Fenster. »Damit dein Vater ihn dir nicht auch noch wegnehmen kann.«
9
Die Jahre verstrichen. Insgeheim, in ihrem Kopf, maß Rose sie in Farben. Kobaltblau. Ockergelb. Scharlachrot. Private Malstunden in Ga Gas Räumlichkeiten, die alles andere ergrauen ließen.
Zu Roses Enttäuschung schien ihre Schwester Grace die Welt nicht in denselben Farben zu betrachten, auch wenn sie sich immer über Roses Schulter beugte, um die Bilder zu bewundern, die vor ihr auf dem dicken beigefarbenen Pergamentpapier erschienen, als führte ein anderer ihre Hand. »Das ist wunderschön«, sagte Grace eines Morgens, während Rose eher spürte als sah, dass ihre Schwester etwas um den Hals hatte.
»Du trägst Mamas Perlen!«
Der Schock ihrer Worte in der Luft wurde nur übertroffen von der Begeisterung, mit der ihre Schwester nickte. »Sie erlaubt mir manchmal, mit den Flakons auf ihrer Frisierkommode zu spielen.«
Ein seltsam kalter Schauer kroch über Roses Rücken. »Aber sie hat dir sicher nicht erlaubt, ihre Perlen zu tragen.«
Dieses Mal schüttelte Grace den Kopf, und Rose war erleichtert, dass ihre Mutter ihrer Schwester nicht gewährte, was sie Rose nie gewährt hatte. Aber noch während sie ihre Empfindung als kleinliche Eifersucht abtat, durchfuhr sie gleichzeitig ein Schreck. »Du hast sie doch nicht gestohlen?«
Grace lachte unbekümmert. »Natürlich nicht. Ich wollte das Collier nur anprobieren, weil es eines Tages dir gehören wird. Schließlich bist du die Ältere. Du darfst nicht böse auf mich sein. Ich war nur neugierig.« Sie legte den Kopf zurück, als wollte sie Rose herausfordern. »Sag schon. Steht es mir?«
Sie wusste, dass es ihr stand. Schon seit einigen Jahren war Rose bewusst, dass ihre Schwester die Schönere von ihnen beiden war. Es war ihr Gesicht, bei dessen Anblick Besucher ins Schwärmen gerieten, und das war kein Wunder bei diesem herrlichen Haar, das ihr wallend und weniger rötlich als das von Rose über die Schulter fiel, und bei dieser Nase, die leicht nach oben zeigte und nicht den kräftigen Ausdruck hatte wie die ihrer Schwester. Aber bisher hatte Rose über diese nachteiligen Vergleiche großzügig hinwegsehen können, und es beunruhigte sie, dass die Perlen all das an die Oberfläche brachten, als wäre Neid, sicher eine der schlimmsten Sünden von allen, der Auslöser.
»Du musst die Perlen sofort zurücklegen«, sagte sie. »Bevor Mama auffällt, dass sie weg sind.«
Ihre Schwester hörte nun auf zu lächeln und machte einen Schmollmund. »Ich finde, du bist eine richtige Spielverderberin, Rose.« Und dann stolzierte sie aus dem Zimmer, während Rose derart aufgewühlt zurückblieb, dass sie nicht imstande war, ihren Pinsel wieder in die Hand zu nehmen.
Später an der Abendtafel sah Rose mit Erleichterung, dass das Collier nicht mehr um den Hals ihrer Schwester lag. Als sie zur Schlafenszeit dem Dienstmädchen klingelte, damit es ihr wie immer die Wärmepfanne brachte, gab es eine längere Verzögerung. Schließlich erschien die Küchenmagd und entschuldigte sich vielmals. Offenbar war das Dienstmädchen am
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