Perlentöchter
Nachmittag entlassen worden, weil es sich den Schmuck der Herrin geborgt hatte.
»Du musst Mama sagen, dass du es warst und nicht das Mädchen«, verlangte eine entsetzte Rose von ihrer Schwester, aber Grace zog wieder nur einen Schmollmund.
»Wenn ich das tue, wird sie böse auf mich sein, und das könnte in ihrer Verfassung Gift sein. Das kann ich nicht machen. Wenn du das anders siehst, wirst du es ihr selbst sagen müssen.«
Roses Gewissen nagte tagelang an ihrer Seele. Wenn sie Mama die Wahrheit sagte, würde sie die Freundschaft ihrer Schwester verlieren, und das in einem Haus, in dem die Atmosphäre durch Papas distanziertes Auftreten und Mamas Weigerung, ihr Zimmer zu verlassen, ohnehin bedrückend war. Außerdem hatte das arme Mädchen vielleicht in der Zwischenzeit eine neue Stelle gefunden. Schließlich beschloss Rose zu schweigen, und ihre Schwester verwandelte sich nach und nach wieder in ihr altes herzliches Ich. Aber Rose betrachtete Grace danach nie wieder im selben Licht.
Abgesehen von diesem Zwischenfall ging das Leben normal weiter im sogenannten Hausstand von Dr. James. Mama zog sich immer mehr zurück und hielt sich in ihrem Privatsalon mit den schweren Samtvorhängen auf oder oben in ihrem Boudoir, wo ihr Vater sich selten hinwagte, wie die Hausmädchen tratschten, ohne zu ahnen, dass Rose zuhörte.
Papa besuchte einen sich stetig vergrößernden Kreis von Patienten in Richmond, darunter ein paar Neuankömmlinge, die offenbar Wert auf die Gesellschaft des Doktors bei ihren kleinen Soireen legten. Lange Zeit hatte Rose nicht gewusst, was mit »Soiree« gemeint war, bis Miss Hollingswood ihr mit einem Augenzwinkern erklärte, dass es sich dabei um einen Abendempfang mit musikalischer Begleitung und Gesang handele und dass sie selbst diesen Soireen auch nicht abgeneigt war.
Grace war inzwischen alt genug, um mit ihr und der schrecklichen Lydia, die von Minute zu Minute zappeliger wurde und so selbst die scheinbar unerschöpfliche Geduld ihrer Gouvernante auf die Probe stellte, am Unterricht teilzunehmen.
Aber das alles, dachte Rose, während sie hastig ihren Skizzenblock zuklappte, damit Grace ihr nicht über der Schulter hing und Kommentare machte, war für sie unbedeutend. Tatsächlich verschaffte es ihr sogar Vorteile. Vorausgesetzt, sie machte ihre Aufgaben und verkniff es sich, Lydia mit Wahrheiten zu konfrontieren, bekam sie auch keinen Ärger. Das bedeutete, sie konnte sich nachmittags unaufgefordert nach oben in ihr Zimmer zurückziehen, wo sie vorsichtig und ehrfürchtig Ga Gas schwarzen Malkasten unter der Matratze hervorholte und sich in einer Welt verlor, zu der sonst niemand Zugang hatte.
Natürlich musste sie Grace in ihr Geheimnis einweihen, aber damit tat sie sich nicht schwer, begrüßte es fast. Auch wenn Grace ein »anspruchsvolles Kind« war, wie ihr Vater es genannt hatte, so waren sie nicht nur Schwestern, sondern mittlerweile Freundinnen, wenngleich die Erinnerung an den Vorfall mit dem Perlencollier Rose immer noch beunruhigte.
Manchmal, wenn sie neuen Patienten von Papa auf der Straße begegneten, wurde Grace mit ihren fast neun Jahren gegenüber Rose mit ihren fast elf Jahren für die Ältere gehalten. Sie sah so hübsch aus mit ihrer herrlichen, langen dunklen Mähne mit dem leichten Rotstich, und sie hatte so ein herzliches Lächeln, das den Raum erwärmte, selbst wenn das Mädchen am Morgen kein Feuer im Kamin gemacht hatte.
Dabei hatte Grace nur Unfug im Kopf. Es war Grace, die Grimassen geschnitten hatte, als Mama sie im vergangenen Monat zum Fotografen brachte, sodass Rose kichern musste, was beiden eine scharfe Rüge einbrachte. Es war Grace, die Knöpfe in den Sammelbeutel für die Kirchenkollekte geworfen hatte, sodass die nächste Predigt des Pfarrers davon handelte, wie wichtig ein respektvolles Benehmen an Gottes heiligem Ort war. Und es war Grace, die Löcher in die dicken Wollstrümpfe riss, die sie im Winter tagsüber tragen mussten, weil sie sie viel zu schnell überstreifte in ihrer Hast, nach unten zu laufen und das neue Grammophon spielen zu lassen, bevor Mama aufgestanden war.
Dann, eines Tages, nachdem die große Eiche draußen längst alle Blätter verloren hatte, geschah etwas wirklich Bedeutsames.
»Du wirst es nicht glauben!«, rief Grace und platzte in das Schlafzimmer herein, das die Schwestern sich teilten, ohne wie üblich dreimal kurz anzuklopfen: Dies war das Zeichen, auf das sie sich vor langer Zeit verständigt hatten, um Rose
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