Perlentöchter
die ihre richtige abgelöst hatte.
Eine Freundin? Aber sie hatte eine Freundin. Sie hatte ihre Schwester. Nicht ihre jüngste Schwester Phoebe, die noch zu klein war, um etwas zu verstehen, und die singend durch die Gänge hüpfte, ohne die düsteren Schlagzeilen in Papas Zeitung und die dunklen Ringe unter Graces Augen wahrzunehmen. Aber das konnte Rose nicht laut sagen. Sie durfte nichts tun, was ihre Schwester beunruhigen könnte oder ihre Mutter, die tatsächlich ihr eigenes Krankenbett verließ, um Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, während sie die Hand ihrer mittleren Tochter hielt. Häufig erwartete sie dann von Rose, die Rolle der Erwachsenen zu übernehmen, indem Rose frisches Wasser holte oder die Bettpfanne leerte, wenn das Hausmädchen verhindert war.
Dann, eines Tages, als bereits die ersten Knospen im Garten blühten, wachte Grace in einer besseren Verfassung auf als in den ganzen Wochen zuvor. Die Erleichterung stand ihren Eltern ins Gesicht geschrieben. »Vielleicht«, sagte Papa in sanftem Ton zu ihr, »möchtest du heute etwas zu dir nehmen?«
Roses Herz schlug schneller. Grace aß seit Tagen nicht richtig, sogar seit Wochen nicht. Kein Wunder, dass ihr Körper so eingefallen wirkte.
»Wisst ihr, worauf ich wirklich Lust hätte?« Ihre Schwester ließ erwartungsvoll den Blick durch das Zimmer schweifen, als suche sie etwas. »Ich habe mich immer gefragt, wie Champagner schmeckt. Sie wissen schon, Papa, das Getränk, das bei den Soireen getrunken wird, die Sie besuchen. Lydia hat uns davon erzählt.«
Lag es an Roses Einbildung, oder bildeten sich auf Papas Wangen kleine rote Flecken wie bei Miss Hollingswood? »Champagner«, wiederholte er, ohne Mama anzusehen, wie Rose auffiel. »Du möchtest also gerne wissen, wie Champagner schmeckt? Dann sollst du Champagner bekommen.«
Rose wartete darauf, dass ihre Mutter Bedenken äußerte, aber es kam kein einziger Ton von ihr. Stattdessen saß sie da und streichelte die Hand ihrer kranken Tochter, als habe die Unterhaltung überhaupt nicht stattgefunden. Nur wenige Minuten später, so schien es zumindest, kam ein Dienstmädchen mit einem Silbertablett. Darauf stand eins der hübschesten Gläser, die Rose je gesehen hatte. Es hatte einen geriffelten Rand und war gefüllt mit einer klaren, perlenden Flüssigkeit.
Ihre Mutter streckte als Erste die Hand danach aus. »Hier, mein Schatz, lass mich dir helfen.«
Rose, der bei dem seltenen Klang der Stimme ihrer Mutter schier der Atem stockte, beobachtete, wie diese mit einer Hand den Kopf der armen Grace stützte und mit der anderen das Glas an ihre Lippen führte. Man hörte ein leises Schlürfen und gleich darauf ein Kichern. »Köstlich. Absolut köstlich. Vielen Dank.«
Grace ließ den Kopf zurück auf das Kissen sinken. »Ich fühle mich bereits leicht benommen.«
Papa lächelte über das Bett hinweg Mama an, und Rose durchströmte ein wundervolles Gefühl. »Das ist genau die Wirkung, die du spüren sollst, mein Liebes.«
Am folgenden Morgen wurde Rose vor Tagesanbruch von dem Mädchen geweckt. Grace war in der Nacht gestorben.
11
Wäre der Krieg nicht gewesen, wäre Rose damit nicht fertig geworden. Aber so konnte sie ihre Trauer über den Tod ihrer Schwester verbergen indem sie tat, als weinte sie um all die jungen Männer, die auf den rosaroten und gelben Flecken des Schulzimmerglobus ihr Leben ließen. Selbst Lydia hatte als Teil ihrer neuen patriotischen Gesinnung inzwischen gelernt, einzelne Regionen in Frankreich benennen zu können.
»Mag sein, dass ich zur Hälfte Amerikanerin bin«, verkündete sie mit ihrer Piepsstimme, »aber mein Herz schlägt für England.« Dann wanderte ihre Hand über den Tisch im Schulzimmer und drückte sanft die von Rose. »Natürlich weiß ich, dass das Schicksal jederzeit zuschlagen kann, auch näher der Heimat als Frankreich. Ich fühle aufrichtig mit dir, Rose. Das tue ich wirklich.«
Wenn Lydia so redete, bekam Rose große Lust aufzustehen, den Globus auf den Boden zu schmettern und den Raum zu verlassen, während ihre steife Gouvernante und ihre dumme Mitschülerin alleine zurückblieben. Sie wollte kein Mitleid und auch kein Beileid. Sie wollte nicht mehr lernen. Sie wollte ihre kleine Schwester nicht, die mit ihrem trotz ihres zarten Alters schroffen Naturell so anders war als die sanfte, liebenswürdige Grace. Und sie wollte nicht mehr malen. Niemals wieder.
»Warum nicht?«, fragte Ga Ga, die Augen milchig vom Alter und Kummer. »Deine
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