Perlentöchter
Schwester war so stolz auf dich. Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Weil es meine Schuld ist«, erwiderte Rose und ließ sich untröstlich auf die Chaiselongue ihres Großvaters sinken.
Und nichts, was er sagte, konnte sie vom Gegenteil überzeugen. Außerdem war es zu spät. Sie hatte den Malkasten bereits im Garten vergraben, zusammen mit ein paar Blumenzwiebeln, zum Gedenken an ihre Schwester. An ihre richtige Schwester, wohlgemerkt.
»Phoebe ist noch sehr jung«, bemerkte ihr Vater, als ihm auffiel, dass ihre kleine Schwester jeden Versuch von Rose abblockte, mit ihr zu spielen. »Wenn ihr älter seid, werdet ihr vielleicht Freundinnen.«
Älter? Mit knapp siebzehn Jahren war Rose beinahe erwachsen. Phoebe dagegen war erst sechs und nicht gerade eine sehr umgängliche Sechsjährige. Mit ihrer hölzernen Art, sowohl von ihrer äußeren Erscheinung als auch von ihrem Wesen her, wies sie alle Versuche ihrer älteren Schwester zurück, sich mit ihr zu beschäftigen oder sie für ein Spiel zu begeistern. Stattdessen begegnete sie ihr mit einer steifen Distanziertheit, die zu einem viel älteren Mädchen gepasst hätte und die Rose eine brennende Wunde im Herzen verursachte. Rose konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals in bestimmten Dingen einig sein würden, dass sie gemeinsam über Leute wie Lydia und ihre Mutter kicherten oder sich um Mama sorgten, die sich nach Graces Tod wieder völlig in ihr Zimmer zurückgezogen hatte und es Rose anscheinend übelnahm, dass sie nicht ihre Schwester war. »Bitte, lass mich allein«, sagte sie, wenn Rose zu ihr wollte. »Es gibt nur eine Tochter, die ich sehen möchte, und die ist tot.«
Aber wenigstens, sagte Rose sich oft, war da der Krieg, mit dem man sich beschäftigen konnte, mit dem sie sich ablenken konnte von den Gedanken, die sie nachts in ihren Träumen heimsuchten, Bildern von Geschwülsten und prickelnden Getränken und Graces blassem, blassem Gesicht.
»Ich wünsche, dass du mich bei meinen Patientenbesuchen begleitest«, sagte ihr Vater eines Morgens unerwartet beim Frühstück.
Rose sah auf, überrascht. Sie wusste aus der Zeitung, dass man anfing, junge Männer nach England zurückzubringen. Junge Männer, die in den Schützengräben schreckliche Verbrennungen und Gasvergiftungen erlitten hatten. Und obwohl Papa kein Wort darüber verlor, wurde sein Gesicht immer hagerer, während seine Arbeit zunahm. Rose wusste von Lydia, dass laut Lydias Mutter sich einige von seinen alten Patienten vernachlässigt fühlten, weil er so viel Zeit im Lazarett verbrachte.
»Es gibt da einen jungen Mann, der mir besonders am Herzen liegt«, fuhr Papa fort. »Wir mussten ihm ein Bein amputieren, und er hat eine schlimme Zeit hinter sich. Ich vermute, dass er nur noch wenige Angehörige hat. Darum wäre es sehr gütig von dir, wenn du ihm ein wenig deiner Zeit widmen könntest.«
Zu Lydias großer Begeisterung wurden Lazarettbesuche bei jungen Kriegsverwundeten schnell zu einem akzeptierten Zeitvertreib für junge Damen aus besseren Kreisen. Sie hatte bereits ihre Mutter in das Krankenhaus auf der anderen Seite von Richmond begleitet und war sehr beeindruckt von einem jungen Mann, der lediglich durch ein Schrapnell am Bein verwundet worden war.
»Er ist mit einem Lord verwandt!«, stieß sie während einer Grammatikaufgabe hervor, als die steife Gouvernante sie allein gelassen hatte und sie die finiten Verben im Französischen üben sollten.
Rose begnügte sich mit einem Nicken als Antwort und wünschte sich, sie könnte sich mit Grace daran ergötzen, dass Lydia in adlige Kreise einheiratete. Nach Lydias Ermessen war ein Hinken durchaus zu verschmerzen für einen möglichen zukünftigen Titel.
Rose selbst hatte nicht die Absicht, den Krieg als Vorwand zu benutzen, um ihre Welt zu erweitern. Trotzdem ließ sie die Vorstellung von einem jungen Mann ohne Familie, der – anders als eine leichte Gehbehinderung durch eine Granate – ein Bein verloren hatte, nicht mehr los. Am folgenden Tag begleitete sie ihren Vater in das Lazarett.
Es war ihr erster Besuch dort, und das Erste, was ihr auffiel, war die Geräuschkulisse. Keine Schreie, wie sie in ihrer Fantasie befürchtet hatte, bevor sie durch die große Eingangstür trat und ihrem Vater durch die breiten Gänge folgte, sondern eine seltsame Mischung aus vereinzelten Rufen und Stille. Wie aus dem offenen Zimmer, an dem sie gerade vorbeigingen und in dem jemand Papa gesehen hatte und nach ihm rief. Rose konnte
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