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Perlentöchter

Perlentöchter

Titel: Perlentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Corry
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nicht sehen, wem die Stimme gehörte, die eher nach einem Mann geklungen hatte als nach einer der Schwestern, die in ihren steifen blau-weißen Uniformen an gestärkte Kakadus erinnerten, aber ihr Vater befahl ihr, zu warten und ihm unter keinen Umständen zu folgen. Also gehorchte sie und beobachtete stumm den vorbeiziehenden Strom von Männern, die sich auf Krücken stützten und sie anlächelten oder auch ignorierten. Und dann kam schließlich ihr Vater heraus, der weder zufrieden noch vergrämt blickte, und verlor kein Wort über den Mann, der ihn ohne jede Höflichkeit, die man vielleicht hätte erwarten können, gerufen hatte.
    »War das ein Patient, Papa?«, fragte sie, während sie ihm wieder folgte und fast rennen musste, um Schritt zu halten. Der Hinterkopf ihres Vaters nickte und gab ihr zu verstehen, dass sie keine weiteren Fragen stellen sollte.
    Und dann war da das Schweigen. Die stillen Säle wie jener, den sie gerade durchquerten, in denen Männer im Leichentuch unter weißen Laken ruhten. Rose hielt den Atem an.
    »Sie sind nicht tot«, sagte ihr Vater in freundlichem Ton, als würde er ihre Gedanken ahnen. »Sie schlafen oder ruhen sich aus.« Er nahm sie am Arm und führte sie ganz nach hinten in die rechte Ecke, wo er einer Krankenschwester zunickte, die wie alle anderen, die sie gesehen hatten, ihrem Vater mit Hochachtung begegnete. »Hier drüben, Rose.«
    Ihr Herz begann zu hämmern. War dies nun der amputierte Mann? Wie sah er wohl aus? Lydia hatte, als sie von Roses geplantem Besuch erfuhr, ihr den Kopf gefüllt mit Schreckensbildern von blutigen Stümpfen und offen klaffendem Fleisch. Aber dieser Mann, der in dem Metallbett saß und sich am Kopfende gegen ein Kissen lehnte, machte einen völlig normalen Eindruck.
    »Duncan«, sagte ihr Vater und schüttelte ihm die Hand auf eine Art, die Rose vermuten ließ, dass Duncan »einer von uns« war. »Das ist meine Tochter Rose. Sie begleitet mich, um im Lazarett zu helfen.«
    Allein diese Worte genügten, um Rose einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sie wurde als Erwachsene vorgestellt und nicht als Kind! Aber das war nicht der einzige Grund für das kribbelnde Gefühl in ihrem Rücken. Dieser Mann hatte die freundlichsten Augen, die sie jemals gesehen hatte, in einem wundervollen Haselnussbraun, dem das Kunststück gelang, einem Sommerblatt und einem Herbstblatt zugleich zu ähneln. Eine Hand streckte sich ihr entgegen, und sie zögerte. »Ich bin nicht ansteckend, Rose«, sagte Duncan mit einer Stimme, die der ihres Vaters nicht unähnlich war, aber sich sehr unterschied von den derben Rufen der Männer, die Papas Aufmerksamkeit hinten im Gang, der nach Essig und Schwefel stank, verlangt hatten. Aber Duncan sprach nicht in einem Ton, bei dem sie sich dumm vorkam. Vielmehr hatte seine Stimme einen tröstenden und beruhigenden Klang.
    Sie drehte sich zu ihrem Vater, um zu sehen, ob er sich über ihr Zögern ärgerte, aber er war bereits in ein ernstes Gespräch mit der steifen blau-weißen Krankenschwester vertieft.
    »Bitte«, sagte Duncan und deutete auf den schlichten Holzstuhl neben seinem Bett. »Nehmen Sie Platz.«
    Während Rose seiner Aufforderung nachkam, konnte sie nicht vermeiden, einen Blick auf die weiße Decke zu werfen, die die Beine des Patienten verdeckte. Ein Beinamputierter, hatte ihr Vater gesagt. Er sah ganz normal aus, allerdings hatte Rose, die keine Brüder hatte, keine Ahnung, wie ein Mann im Bett aussah.
    »Es tut nur nachts weh«, sagte Duncan, und sie errötete vor Verwirrung, brachte es aber nicht über sich, ihn zu fragen, was er damit meinte. »Ich habe Schmerzen dort, wo früher mein Bein war.« Seine haselnussbraunen Augen ruhten immer noch sanft auf ihr. »Ihr Vater hat mir den medizinischen Ausdruck dafür genannt, aber ich habe ihn vergessen. Es hat damit zu tun, dass mein Körper immer noch denkt, dass dort ein Bein sei.«
    Rose hatte das Bedürfnis, diesem Mann zu helfen, wie sie es bei ihrer Schwester nicht vermocht hatte. »Und kann man nichts tun, um die Schmerzen zu lindern?«
    »Gewiss.« Seine Augen tanzten wieder.
    »Bitte, sprechen Sie.«
    »Sie können sprechen, und ich höre zu. Erzählen Sie mir eine Geschichte.« Er lehnte sich zurück in sein dünnes Kissen und schloss die Augen. »Früher habe ich gerne gelesen, aber heute bin ich zu erschöpft dafür. Und außerdem gibt es hier keine anständigen Bücher.«
    »Ich kann Ihnen welche mitbringen.« Rose dachte an die Bücherreihen im

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