Perlentöchter
Schulzimmer. »Bei meinem nächsten Besuch.«
Er nickte. »Das wäre wunderbar. Aber wenn Sie mir wirklich helfen möchten, können Sie mir heute eine Geschichte erzählen?«
Und so fing es an. Rose begann damit, ihn zum Lachen zu bringen, weil ihr Vater gesagt hatte, das sei genau das, was diese jungen Männer brauchten, etwas, was sie von den Schrecken des Krieges ablenkte und von seinem Vermächtnis, das sich in ihre Körper geschnitten hatte. Rose erzählte diesem Duncan Macintyre, dessen Familie aus Schottland stammte, obwohl er ohne den geringsten Akzent sprach, von der dummen Lydia und ihrer Mutter und den schrecklichen Soireen, an denen Grace und sie gelegentlich hatten teilnehmen müssen.
»Wer ist Grace?«, fragte er. Und dies war der Auslöser, dass sie ihm unwillkürlich alles erzählte, Dinge, die sie niemandem anvertraut hatte mit Ausnahme von Ga Ga, bloß dass Duncans Reaktion anders ausfiel. »Ich kann verstehen, warum Sie sich die Schuld geben«, sagte er auf eine Art, die ihr das Gefühl gab, als würde sie ihn schon eine Ewigkeit kennen. »Aber das nützt nichts. Sie müssen das Leben nehmen, wie es kommt, statt sich zu fragen, was passiert wäre, wenn Sie dieses oder jenes getan hätten. Charles hat das immer gesagt.«
Charles? Wer war Charles? Aber gerade als Rose fragen wollte, bemerkte sie, dass Duncans Lider sich schläfrig senkten. Vorsichtig zog sie die Decke über seine Hände und entfernte sich auf Zehenspitzen, um Papa zu suchen.
Rose sagte später, der Umstand, dass ihr zukünftiger Ehemann ein begnadeter Geschichtenerzähler war, habe ihr Herz erobert. Es sei gewesen, als würde man einem Gemälde zuhören, das reden konnte. Wenn sie so sprach, registrierten aufmerksame Beobachter, dass ihr Blick sich leicht trübte und ihre Stimme weicher klang als gewöhnlich. Sie habe ihm empfohlen, die Geschichten niederzuschreiben, fügte sie hinzu, was er jedoch nie tat. Also habe es an ihr gelegen, alles für ihn in ihrem Tagebuch festzuhalten, in das sie täglich schrieb, seit Miss Hollingswood sie dazu ermuntert hatte.
Duncan war kein minder guter Erzähler als sie, und in den Wochen nach ihrem ersten Besuch verbrachte sie viele Stunden an seinem Bett und lauschte seinen Familiengeschichten, mit denen er sich für ihre revanchierte. Er beschrieb seine Kindheit. Sein Vater, ein Pfarrer, war früh gestorben und hinterließ eine Frau und vier Kinder, von denen Duncan der Zweitälteste war. Als seine Mutter später ihre Absicht bekannt gab, den Schulmeister zu heiraten, hatte sein älterer Bruder Charles vor Wut getobt.
»Mein Bruder ist ein impulsiver Mensch«, erklärte Duncan mit einem Augenzwinkern. »An jenem Morgen hatte er kurz zuvor im National Geographic Magazine einen Bericht über Borneo gelesen.«
Borneo! Dies war ein Land, das keine ihrer Gouvernanten auf dem Globus bezeichnet hatte. War es ein Puddingrosa oder ein Sonnengelb?
»Er drohte daraufhin, nach Borneo auszuwandern, wenn Mutter ›diesen Kerl‹ heiratete, wie er ihn nannte. Können Sie sich das vorstellen? Er wusste nichts über die Insel, aber so ist Charles nun einmal. Er war schon immer ein Teufelskerl.«
»Hat er seine Drohung wahrgemacht?« Roses Augen waren weit aufgerissen vor Staunen.
»Ja. Und er hat ganze Arbeit geleistet. Er fand eine Stelle als Verwalter einer Kautschukplantage, womit er sich einen Namen machte. Dann natürlich kehrte er zurück, um seine Pflicht für sein Vaterland zu erfüllen. Charles tut im Grunde immer das Richtige im Leben.«
»Und hat er Sie schon besucht?«
»Ich hoffe, dass er das in Bälde nachholen wird.«
Tatsächlich dauerte es noch viele weitere Monate, bis der Krieg vorbei war. Zu lange, wie Papa unheilvoll bemerkte, denn für viele Frauen ihres Alters hatten sich die Chancen, einen Ehemann zu finden, durch den schrecklich hohen Blutzoll gravierend verschlechtert. Seine Worte verursachten Rose ein leises Frösteln, und sie überlegte nun, ob ihre bisherigen Pläne, in Papas Haus zu bleiben und niemals zu heiraten, womöglich etwas oberflächlich waren. Phoebes Ankunft und Graces Abwesenheit bewirkten, dass ihr Zuhause nie wieder dasselbe sein würde, und sie hatte den Eindruck, dass Papa genauso dachte. Aber er erwartete von ihr doch hoffentlich nicht, dass sie Duncan heiratete? Mittlerweile saß ihr junger Freund, wie Ga Ga ihn nannte, in einem Rollstuhl und wartete ungeduldig auf seinen Bruder, der offenbar Pläne mit ihm hatte. Eines Morgens erblickte Rose beim
Weitere Kostenlose Bücher